Alles muss versteckt sein (German Edition)
Tag über Monate schwamm, wieder auftauchte, war es ihr mit grausamster Sicherheit bewusst geworden. Es war wahr. Es ist wahr.
»Celia wollte mit ihrem Roller anhalten«, spricht sie tonlos weiter. »Der Polizist stand schließlich mit dem Rücken zu ihr, ich selbst sah ihn von vorn. Brust und Rücken, Bremse drücken, pupsi einfach. Wie genau es dann passiert ist, weiß ich nicht, irgendwie ist sie ins Rutschen gekommen oder gestolpert, ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht war ich auch einen Moment abgelenkt, weil der Schutzmann mir zuwinkte oder ein Auto hupte, ich weiß es wirklich nicht.« Wieder bricht Marie ab.
»Spielt das denn eine Rolle?«, fragt Dr. Falkenhagen und reicht ihr noch ein Taschentuch.
»Ob das eine Rolle spielt?«, fährt sie ihn an, dann schnäuzt sie sich geräuschvoll und holt tief Luft. »Ob es eine Rolle spielt, nicht genau zu wissen, wie das eigene Kind überfahren wurde? Ob Celia gesehen hat, dass ein Jeep auf sie zuraste? Ob sie sich erschrocken hat und noch zurückweichen wollte, ob sie Angst hatte, Todesangst, oder ob sie gar nicht mehr gemerkt hat, wie ihr kleiner Körper von der Motorhaube des Wagens erfasst und durch die Luft geschleudert wurde? Das spielt keine Rolle?«
»Doch«, sagt er beschwichtigend, »natürlich tut es das. Ich glaube nur, dass Sie es einfach vergessen haben. Verdrängt. Wir Menschen können Ereignisse, die wir nicht ertragen, vollkommen ausblenden.«
»Meinen Sie, so wie die Tatsache, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann, meinen Freund ermordet zu haben?«
»Ja, so ähnlich.«
»Wie praktisch!«, erwidert Marie und spürt ein hysterisches Lachen in sich aufsteigen. »Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß.«
»Nein. Das ist ein Schutzmechanismus, was die Seele nicht verkraftet, verdrängt sie.«
»Haben Sie eigentlich Kinder?«, will Marie plötzlich wissen und merkt dabei selbst, wie trotzig sie mit einem Mal klingt. Für einen Moment sieht der Arzt irritiert aus, aber nur ganz kurz.
»Nein, habe ich nicht.«
»Eine Frau?« Wie ein Vorwurf klingt ihre Frage. Er zögert, dann schüttelt er den Kopf. »Wollen Sie keine? Also, Kinder, meine ich?«
»Ist das wichtig für Sie?«
»Ja«, antwortet Marie. »Ich muss wissen, ob Sie mich überhaupt verstehen können. Sie sitzen hier vor mir, fragen mich aus, wollen alles ganz genau wissen, ich soll mein Innerstes nach außen kehren und habe keine Ahnung davon, wer Sie eigentlich sind. Nicht einmal Ihr Alter kenne ich. Irgendwie ist es ungerecht, dass ich gar nichts über Sie weiß, Sie aber alles über mich. Aber so sind wohl die Spielregeln zwischen Patient und Arzt.«
»Ich bin vierzig.« Er lächelt, als er das sagt, obwohl sie ihn regelrecht angreift, scheint es ihn nicht im Geringsten aus der Ruhe zu bringen.
»Und was ist jetzt mit Kindern?«
»Das hat sich bisher nicht ergeben.«
Marie schweigt, sie weiß nicht, was sie als Nächstes sagen soll. Und woher die Wut kommt, die gerade in ihr tobt, Wut auf Jan Falkenhagen. Der weiß doch gar nicht, wie das ist, denkt sie. Hockt hier mit seinen rahmengenähten Schuhen, der Herr Doktor, hört sich ihre und die traurigen Geschichten der anderen an und fährt nach Feierabend mit seinem schicken BMW -Cabriolet nach Hause in seine schicke Penthousewohnung über den Dächern von Pöseldorf oder Harvestehude oder Nienstedten, wo man als erfolgreicher Arzt halt so wohnt, mit Designermöbeln und weißem Ledersofa, auf dem bestimmt noch nie ein Löffel Nutella oder ausgelaufene Plakafarbe gelandet ist. Wie soll denn so einer verstehen, was es bedeutet, sein Kind zu verlieren? Danebenzustehen, wenn es überfahren wird, den Aufprall zu hören, das hässliche Geräusch von zerbeulendem Blech, der dumpfe Aufschlag auf dem Asphalt, die verrenkten Arme und Beine, das gebrochene Genick! Dabei zu sein und nichts tun zu können, nichts, nichts, nichts!
Die unheimliche, entsetzliche Stille, die danach kommt, als wäre man in Watte gepackt, alles wie in Zeitlupe, aufgerissene Münder, beim Fahrer, beim Polizisten, bei den Gaffern, die an der Unfallstelle halten, aus ihren Autos springen und tonlos »O mein Gott, o mein Gott!« schreien; irgendwann ein Martinshorn, dass die Leere zerreißt, und dann wird sie, Marie, zerrissen, von irgendwelchen Händen, die nach ihr greifen und sie davonzerren, fort von Celias leblosem Körper, über dem sie kniet, den sie an ihre Brust drückt, diesen kleinen, schlaffen Körper, so sehr an sich drückt, als
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