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Alles muss versteckt sein (German Edition)

Alles muss versteckt sein (German Edition)

Titel: Alles muss versteckt sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiebke Lorenz
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verletzt?«
    »Man kann nicht verletzt werden, wenn man nichts mehr spürt«, gibt sie zurück und meint es so. »Vielleicht war es mir sogar ganz recht, ich wollte sowieso nicht mehr mit ihm schlafen, das konnte ich nicht. Ein halbes Jahr später haben wir uns beide eine neue Wohnung genommen, drei Monate danach haben wir die Scheidung eingereicht. Und das war es dann. Aus drei mach eins, so schnell kann es gehen.« Ene mene muh und raus bist du!
    »Hat es da angefangen?«
    »Was?«
    »Die Zwänge. Haben Sie da zum ersten Mal einen Schub bekommen?«
    »Das begann schleichend, kaum merklich«, sagt Marie und knetet jetzt schon wieder vor Nervosität ein Taschentuch in Fetzen. »So, dass ich mir anfangs überhaupt nichts dabei dachte, außer vielleicht, dass ich natürlich noch total neben mir stand. Wer hätte das nicht? Celia tot, die Beziehung zu Christopher zerbrochen – meine Kolleginnen waren alle der Ansicht, dass ich mich besser noch länger krankschreiben lassen und zu Hause bleiben sollte.«
    »Aber das wollten Sie nicht?«, fragt Dr. Falkenhagen, obwohl die Antwort doch mehr als auf der Hand liegt. Marie wundert sich ein bisschen darüber, dass der Arzt ständig Dinge fragt, die er doch eigentlich schon weiß. Oder wissen müsste. Positive Verstärkung vermutet sie dahinter, diese pädagogische Allzweckwaffe, er will Marie dazu motivieren, weiterzusprechen. Auch das kennt sie ja selbst von ihrer Arbeit als Erzieherin, den Kindern immer und ständig signalisieren, dass man an ihnen interessiert ist, ihnen zuhört, sie ernst und wichtig nimmt.
    »Nein, ich war ja schon ein halbes Jahr ausgefallen und dachte, dass ich zu Hause irgendwann verrückt werden würde. Wie hätte ich auch ahnen können, dass es nicht zu Hause passiert? Dass ich ganz woanders wahnsinnig werde?«
    Die Babys. Mit ihnen fing es an. Die Trennung von Christopher war ungefähr ein Vierteljahr her, und eigentlich dachte ich, dass es mir wieder ganz gut ginge. Natürlich nicht wie früher, aber manchmal konnte ich sogar schon wieder lachen oder mal ein paar Minuten am Tag nicht an Celia denken. Tatsächlich half mir die Arbeit auch irgendwie dabei. Ein regelmäßiger Tagesablauf, über den ich nicht nachdenken musste, morgens in den Kindergarten, nachmittags nach Hause, ein paar Stunden auf dem Sofa sitzen und gegen die Wand oder in den Fernseher stieren, drei oder vier Gläser Rotwein, damit die Müdigkeit kam, dann ab ins Bett und hoffen, dass die Albträume mich verschonen würden. So ging es dann ja auch eine ganze Weile gut, unspektakulär und regelmäßig. Bis es dann passierte.
    Barbara, die Mutter von Paul, kam eines Morgens in den Kindergarten und hatte ihren neugeborenen Säugling dabei, den sie uns allen zeigen wollte.
    »Wir möchten euch Pauls kleine Schwester Henriette vorstellen.« Paul selbst stand stolz daneben und genoss es sichtlich, dass alle seine Freunde mal neugierig gucken wollten, wer das kleine Mädchen war, das da schlafend auf Barbaras Arm lag und an seinem Schnuller nuckelte.
    »Die ist ja total winzig!«, quiekten die Mädchen verzückt, als wäre das Kind eine Puppe, die Jungs warfen nur einen kurzen Blick auf Henriette und wandten sich dann wieder spannenderen Dingen zu, ein Baby fanden sie dann doch nicht so interessant.
    »Wie süß!«, rief Jennifer aus. »Darf ich sie mal halten?« Barbara legte meiner Kollegin das Kind in den Arm. Sofort fing Jennifer an, verzückte Dutzi-Dutzi-Laute von sich zu geben. Als sie meinem Blick begegnete, verstummte sie und schlug verschämt die Augen nieder. Richtig, die Frau mit der toten Tochter, das war ihr in diesem Moment natürlich unangenehm.
    »Gib sie mir bitte auch mal«, bat ich, um meinen Aussätzigen-status zu überspielen, und gab mir Mühe, dabei zu lächeln. Eine kurze stumme Frage Richtung Barbara, die Jennifer mit einem Nicken erlaubte, mir das Kind zu überlassen, schon hatte ich das Mädchen auf dem Arm.
    Und es war seltsam. Ein unangenehmes Gefühl kroch in mir hoch, eine Art von Unsicherheit, etwas, das ich nicht genau benennen konnte, aber es war ein bisschen wie der Drang, den man verspürt, wenn man an einem steilen Abhang oder auf einem hohen Balkon mit niedriger Brüstung steht. Die Lust und gleichzeitig die Angst davor, in die Tiefe zu springen, denn es wäre ja nur ein einziger Schritt, ganz einfach, nur ein kleines Stückchen vor, schon wäre man im freien Fall und dann, ohnmächtige Sekunden später, kawumms!
    Ich bekam eine Gänsehaut, mein

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