Alles muss versteckt sein (German Edition)
gesamter Körper spannte sich seltsam an, und es war fast so, als hätte ich noch nie ein Baby im Arm gehalten, obwohl ich das ja schon tausendfach getan hatte. Mir war, als könnte ich aus Versehen etwas kaputt machen, dieses kleine, verletzliche und schutzlose Wesen irgendwie beschädigen. Ich war ja viel größer als Henriette, hatte die vollkommene Macht über sie, sie war mir ausgeliefert. Noch nie zuvor war mir in den Sinn gekommen, dass Kinder uns wirklich komplett ausgeliefert sind, auf Gedeih und Verderb.
Plötzlich war da dieses Bild in mir, wie ich das Mädchen fallen lassen würde. Oder mit Schwung wegwerfen, gegen die Wand klatschen oder auf den Boden, die weichen Knochen würden brechen, alle auf einmal, erst durch den Sturz, und dann würde ich noch einmal auf das Kind drauftreten. Knack, der Schädel eines Babys, er würde so einer Gewalt nicht standhalten können.
Scheinbar war mir mein Unwohlsein anzumerken, denn Jennifer fragte »Ist was?«.
Panik stieg in mir auf, was denn das nur für seltsame und beängstigende Vorstellungen waren, die mir da ohne jede Vorwarnung durch den Kopf schossen. Und die den anderen vielleicht nicht verborgen blieben.
»Nimm sie bitte mal wieder«, sagte ich und drückte Barbara ziemlich hektisch ihr Kind zurück in den Arm. Ich wollte das Baby nur noch loswerden, weg von mir, es außerhalb meiner Reichweite bringen, bevor ich irgendetwas Schlimmes tun würde.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Ja«, sagte ich, »aber ich muss mich jetzt wieder um die Gruppe kümmern.« Mit diesen Worten floh ich nahezu rüber ins Spielzimmer, völlig verwirrt und durcheinander, fassungslos über das, was ich gerade gedacht hatte. Doch so schnell die Bilder gekommen waren, so schnell verschwanden sie auch wieder.
Ich versuchte, mich damit zu beruhigen, dass das absolut verständlich und normal sei. Als ich nach der Arbeit mit dem Auto nach Hause fuhr, sagte ich mir, dass es doch vollkommen klar war, dass ich in meinem Zustand nicht so gern ein Baby auf den Arm nahm, noch dazu ein Mädchen! Ich würde einfach noch mehr Zeit brauchen, bis die Wunden verheilt wären. Das vorhin war nur eine Übersprungsreaktion gewesen, kein Grund zur Sorge, alles war gut.
»Das war also das erste Mal?«
»Ja. Aber da wusste ich natürlich noch nicht, was es war.«
»Und was passierte dann?« Wieder knetet Marie ein zerfetztes Taschentuch in ihren Händen, senkt den Blick und flüstert: »Es wurde nicht besser. Es wurde immer schlimmer.«
5
E ine gute Woche lang passierte nichts, und ich wiegte mich schon in der Sicherheit, dass mein gedanklicher Aussetzer wohl ein Einzelfall bleiben würde. Aber dann musste ich irgendwann mittags rüber in den Supermarkt, um beim dazugehörigen Bäcker ein paar Berliner für die kleine Geburtstagfeier zu besorgen, die wir für eines der Kinder am Nachmittag veranstalten wollten. Vor mir in der Schlange stand eine Frau mit Kinderwagen, das Baby darin war nur wenige Wochen alt.
»Wie süß«, sagte ich, als ich das kleine, verknautschte Gesicht sah, das unter einem himmelblauen Mützchen hervorlugte; die winzigen, zu Fäusten geballten Händchen, der Miniaturkörper, der unter der Decke im Schlaf leicht zuckte. Die Mutter lächelte mich an, so wie Mütter einander eben anlächeln, wenn es um ihren Nachwuchs geht, lächelte freundlich und stolz, ein Lächeln, das ich sicher auch schon tausendfach gelächelt hatte.
»Wie alt ist er denn?«, wollte ich wissen.
»Drei Wochen«, sagte die Frau. »Ist mein Erstes.« Ich beugte mich runter, um dieses erste Baby noch genauer in Augenschein zu nehmen. Dachte mir überhaupt nichts dabei, nicht das Geringste, die Erinnerung an mein Erlebnis mit Henriette war wie weggeblasen, ich wollte mir einfach nur dieses süße Baby ansehen, den typischen Geruch von Puder und leicht gegorener Milch einatmen, vielleicht seine weiche Haut einmal kurz berühren und es streicheln. Meine Hand wanderte Richtung Kind – und dann war es, als würde mir jemand mit einer Axt in beide Kniekehlen schlagen, ich knickte fast weg und konnte mich gerade noch irgendwie taumelnd wieder fangen, indem ich nach dem Lenker des Kinderwagens griff und mich daran festhielt.
»Hoppla!«, rief die junge Mutter und lachte. »Passen Sie auf, Sie fallen ja gleich um!« Schnell zog ich meine Hand zurück, als hätte ich einen Stromstoß bekommen. Und es war auch wie ein Stromstoß, nur tausendmal gewaltiger. Ich hatte mich selbst dabei gesehen, wie ich
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