Alles muss versteckt sein (German Edition)
nicht.«
»Aber damals?«, fragt sie.
»Ja, vermutlich. Irgendetwas muss passiert sein, irgendetwas, das Sie nicht verhindern konnten.« Er wiegt den Kopf nachdenklich hin und her.
»Sie glauben nicht, dass ich es hätte verhindern können?«
»Nein«, sagt er. »Ich glaube, sie hatten keine Wahl.«
Keine Wahl. Maries Anspannung lässt ein wenig nach.
»Und halten Sie mich für gefährlich?«
Er lächelt. »Das tue ich nicht. Ich glaube, dass Sie krank sind, sehr krank. Aber Sie sind keine Psychopathin.«
Der will mir wirklich helfen, denkt Marie. Der ist nicht der Feind, der ist ein Freund.
Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und mustert Jan Falkenhagen verstohlen, lässt ihren Blick über seine Hände gleiten, die das Notizbuch und den Stift halten. Langgliedrig und fein sind seine Finger, glatte Haut, irgendwie das, was man sich unter »sensibel« vorstellt. So sensibel wie die Art, in der er mit Marie spricht, nicht der Hauch eines Vorwurfs oder der Ablehnung liegt darin, als wäre es das Normalste auf der Welt, freundlich und entspannt mit jemandem zu plaudern, der Mordfantasien gegenüber Kindern und einen anderen Menschen auf dem Gewissen hat.
Sie versteht auf einmal, warum die meisten Patienten der Station seine Nähe suchen. Während er mit ihr spricht, kommt es Marie vor, als wäre das alles gar nicht so tragisch. Da ist jemand, der begreift, was sie durchlitten hat, der sie nicht verurteilt für das, was sie ist, für das, was sie getan hat.
»Vermutlich wurde der Zwang durch das Trauma ausgelöst, das der Tod Ihrer Tochter bei Ihnen verursacht hat«, erklärt er, als habe er soeben ihre Gedanken über das Begreifen erahnt. »Ich vermute auch eine verschleppte, unbehandelte Depression. Unser Geist funktioniert wie ein Bodyguard, wissen Sie?«
»Ein Bodyguard?«
»Er versucht, uns darauf hinzuweisen, wenn etwas nicht stimmt. So wie Schmerzen quasi dazu da sind, dass wir körperliche Verletzungen bemerken und sie versorgen. Genauso haben seelische Erkrankungen die Aufgabe, emotionale Verletzungen sichtbar zu machen. Und Sie sind ja emotional verletzt, Celias Tod und die Trennung von Ihrem Mann haben Sie nicht verkraftet. Also erst das Trauma, dann die unbehandelte Depression – und so bricht irgendwann der Zwang aus.«
»Aber das passiert nicht bei jedem«, wirft sie ein und plötzlich kommt sie sich vor, als würde sie ein »Fachgespräch« unter »Kollegen« führen. Denn mittlerweile ist sie ja schlauer, viel schlauer noch, als sie damals gewesen war, als die Verzweiflung ihr den Blick verstellt hatte. Elli hatte ihr nach und nach vieles erklärt, auch wenn das nicht erklärt, weshalb sie jetzt auf Station 5 in Haus 20 ist. Aber den Grund dafür, das hat Dr. Falkenhagen ja eben versprochen, werden sie nun gemeinsam herausfinden.
»Nein«, sagt er, und Marie spürt ein bisschen Stolz in sich aufsteigen, wie ein Schulkind, das vom Lehrer gelobt wird. »Dazu braucht es auch eine Disposition, eine Veranlagung, genetisch oder sozial bedingt, zum Beispiel durch seelische Missstände. Und«, er lehnt sich ein Stück zu ihr vor, »solche seelischen Ursachen scheinen mir nach dem, was Sie mir bisher über Ihre Mutter erzählt haben, bei Ihnen nicht ganz ausgeschlossen zu sein. Sehr liebevoll sind Sie ja scheinbar nicht erzogen worden, eher mit Druck und hohen Anforderungen.« Bist du noch ganz bei Trost? »Jedenfalls wundert es mich überhaupt nicht, dass sich Ihre aggressiven Zwangsgedanken ausgerechnet gegen Kinder richten. Das ist mehr als logisch und liegt für mich absolut auf der Hand.«
»Der Zwang stürzt sich perfiderweise auf genau das, was wir am meisten lieben«, wiederholt Marie Ellis Worte. Und dann fängt sie an, zu erzählen, wie es weiterging, wie sich die Schlinge um ihren Hals fester und fester zuzuziehen begann. Denn es blieb ja nicht bei den Kindern. Es fing an, sich auszubreiten. Auszubreiten wie ein bösartiges Geschwür.
Ich hielt mich an den Rat meiner Mutter. Meldete mich im Kindergarten krank, besorgte mir vom Hausarzt einen gelben Zettel – um den zu bekommen, musste ich gar nichts groß erzählen, ein totes Kind reichte schon, um für Wochen oder Monate arbeitsunfähig geschrieben zu werden – und versuchte ansonsten, mich mit Lesen, Schlafen und Fernsehen zu entspannen. Aber hin und wieder musste ich natürlich trotzdem meine Wohnung verlassen, und zu meinem Entsetzen musste ich dabei feststellen, dass meine grauenhaften Hirngespinste ein immer größeres
Weitere Kostenlose Bücher