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Alles muss versteckt sein (German Edition)

Alles muss versteckt sein (German Edition)

Titel: Alles muss versteckt sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiebke Lorenz
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Ausmaß annahmen, dass sie um sich griffen und langsam, aber sicher sämtlichen Raum eroberten, dass sie mich fast nirgends mehr in Ruhe ließen.
    Zuerst passierte es beim Postboten, der mir ein Päckchen brachte und dem gegenüber ich plötzlich den Drang verspürte, ihm einfach ins Gesicht zu schlagen. Dann bei der Nachbarin, die vor mir im Haus die Treppe runterging und hinter deren Rücken ich überlegte, dass ich ihr, wenn ich wollte, einen Schubs geben könnte, sodass sie stolpern, fallen und sich vielleicht an einer Stufe den Hals brechen würde.
    Wenn ich im Auto saß, umklammerte ich mit beiden Händen das Lenkrad, um zu verhindern, dass ich das Steuer verriss, in den Gegenverkehr raste oder einen Fußgänger auf dem Bürgersteig überfuhr. Und immer öfter musste ich anhalten, aus dem Wagen steigen und nachsehen, ob ich auch wirklich niemanden überfahren hatte, der nun verletzt und hilflos auf der Straße lag. Ich war mir einfach nicht mehr sicher, ob ich es getan hatte oder nicht. Irgendwann benutzte ich das Auto gar nicht mehr, weil mir das zu gefährlich erschien. Selbst mein Fahrrad ließ ich stehen, denn auch damit könnte ich jemanden anfahren und verletzen.
    Überhaupt ging ich mit der Zeit immer seltener vor die Tür, brach den Kontakt zu den wenigen Freunden, die ich noch hatte, ab. Denn draußen und unter Menschen ereigneten sich in meinem Kopf nur die furchtbarsten Dinge, ich wütete und mordete, ohne dass ein Außenstehender etwas davon ahnte. Ich war eine Täterin ohne Tat. Noch. Und jede Minute, jede Sekunde hatte ich Panik davor, dass es nicht so bleiben würde. Dass ich irgendwann die Kontrolle über mich verlieren und irgendetwas Schreckliches tun würde.
    Oder am Ende sogar schon getan hatte, denn die Unsicherheit in mir, dieses Nicht-genau-Wissen, was passiert war und was nicht, breitete sich in mir mehr und mehr aus. Die Dinge, die ich nur dachte und die, die ich vielleicht tatsächlich getan hatte, verschwammen in meinem Kopf zu einer undurchsichtigen Melange. Wahn oder Wirklichkeit, das war für mich kaum mehr zu unterscheiden. Ein Gefühl wie bekifft: Die Gedanken lassen sich nicht mehr beherrschen, und man weiß nicht, was nur im Kopf vor sich geht und was die Wahrheit ist. Dazu das Misstrauen mir selbst gegenüber, immer wachsam sein, immer darauf achten, was ich gerade tat oder dachte oder ob es auch nur die kleinsten Anzeichen dafür gab, dass ich ausrasten und etwas Schlimmes anstellen könnte. Ich war unter Selbstbeobachtung, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute und Sekunde, ich war nicht mehr frei.
    Eines Abends trieb mich die Verzweiflung ins Internet. Seit Tagen hatte ich meine Wohnung nicht mehr verlassen, versorgte mich nur noch mit Lieferdiensten, immer darauf bedacht, dem jeweiligen Boten das Geld mit ausgestrecktem Arm und aus einem angemessenen Sicherheitsabstand zu reichen. Da hatte ich irgendwann die Idee, im Netz nach einer Erklärung zu suchen. Vielleicht gab es dort noch andere Menschen, die unter einem ähnlichen Phänomen litten wie ich. Die genauso böse waren, obwohl sie es auch nicht sein wollten, die sich dagegen wehrten und dieselben Qualen durchlebten.
    Also setzte ich mich an mein Notebook und fing an, Begriffe in eine Suchmaschine einzugeben. Gewaltfantasien. Mordlust. Tötungsdrang. Unkontrollierbare Gedanken. Ich tippte und tippte, durchforstete das Netz nach Schlagwörtern, die in meinem bisherigen Leben noch nie eine Rolle gespielt hatten, musste dabei fast lachen, weil mir der Gedanke in den Sinn kam, dass vielleicht schon bald die Polizei vor meiner Tür stünde, um meinen Computer zu beschlagnahmen, weil man mich und meine eigenartige Suche überwacht hatte.
    Ich wurde fündig. Ziemlich schnell sogar, bei meiner Suche stieß ich bald auf ein Forum, in dem sich Menschen austauschten, die genau das beschrieben, was mich seit Wochen so beherrschte. Die vollkommen verstört und ratlos waren, weil sie nicht verstanden, was mit ihnen los war, die sich keinen Reim darauf machen konnten, dass sie wie aus dem Nichts einen nahezu unwiderstehlichen Drang in sich verspürten, anderen etwas anzutun. Wie ein Sog, wie eine unsichtbare Macht, die sie lenkte und die immer stärker wurde, je mehr sie versuchten, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Da las ich es zum ersten Mal, eine Definition für das, was ich hatte. Eine Zwangserkrankung. In ihrer gemeinsten, ihrer heimtückischsten Ausprägung, den Zwangs gedanken.
    Zuerst spürte ich unglaubliche, unfassbare

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