Alles muss versteckt sein (German Edition)
ist es passiert. Ich war erst ein paar Schritte unterwegs, da ist sie von hinten in mich reingesaust. Scheiße, tat das weh!
Natürlich hat die Frau sich mehrfach bei mir entschuldigt, sie hätte mich schlicht nicht gesehen, obwohl ich wirklich ganz normal über den Bürgersteig gegangen bin, auf dem sie mit ihrem Rad ja eigentlich nichts zu suchen hatte. Klar war ich sauer, aber die Frau hat fast geweint, so leid tat es ihr. Sie hat mir eine Theaterkarte als Wiedergutmachung geschenkt. Zur Eröffnung der Sommerfestspiele im Schauspielhaus. Von dem Titel des Stücks habe ich noch nie etwas gehört, aber ich kenne mich ja auch nicht so aus. Sie selbst würde die Hauptrolle spielen, sagte sie.
Das fand ich schon sehr rührend, trotzdem wollte ich die Karte nicht annehmen, weil ich da sowieso nicht hingehen werde. Sie hat aber darauf bestanden, dass ich die Karte nehme, ich könne sie sonst ja auch verschenken. Da hab ich sie halt genommen, mal sehen, ob ich jemandem damit eine Freude machen kann.
Dass mein Finger gebrochen ist, habe ich erst später gemerkt, als er fast aufs Doppelte angeschwollen ist. Jetzt trage ich eine schicke Schiene. Na ja, es könnte schlimmer sein.
Mittwoch, 11. Juli
Elli findet, ich soll unbedingt zu der Premiere gehen. Sie hätte von dem Stück gehört, und es soll ganz toll sein, sie sagt, es sei die Umsetzung eines sehr bekannten Romans. Sogar die Schauspielerin kenne sie, Vera Gerlach. Hat mich also eine kleine Berühmtheit über den Haufen gefahren! Und ihr Bruder, Patrick Gerlach, hätte den Roman geschrieben, den habe sie auch gelesen. Ist mir fast ein bisschen peinlich, dass ich von beiden noch nie etwas gehört habe.
Jedenfalls findet Elli, ich wäre dumm, wenn ich mir das entgehen ließe. Es wäre auch eine gute Übung, unter Menschen zu kommen und wieder richtig am Leben teilzunehmen. Aber was, wenn ich Panik kriege? Wenn ich da eingequetscht wie eine Sardine in der Dose zwischen lauter Fremden sitze und einen Zwangsschub bekomme? Ich könne ja immer noch aufstehen und gehen, hat Elli geschrieben. Stimmt natürlich. Ich glaube, ich muss darüber noch ein bisschen nachdenken. Oder ich schenke die Karte einfach Mama?
Samstag, 14. Juli
Es – war – super!!! Ich bin tatsächlich zu der Aufführung gegangen, und der Abend war großartig! Nicht nur, weil es wirklich ein tolles Stück war und Vera unglaublich gut spielte (jedenfalls, soweit ich das beurteilen kann), sondern, weil überhaupt nichts Schlimmes passiert ist! Am Anfang habe ich mich ein bisschen unwohl gefühlt, da waren so viele Menschen, das Schauspielhaus war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Und ich saß direkt in der ersten Reihe! Aber kaum ging der Vorhang auf, war ich von dem Stück so gefesselt, dass sich alle meine Ängste in Luft auflösten.
Nach der Aufführung kam Vera Gerlach noch im Kostüm zu mir gerannt und hat mich mit einem etwas zerknirschten Blick auf meine Handschiene gefragt, ob es mir gut geht und ob ich noch mit auf die Premierenfeier kommen würde. Keine Ahnung, woher ich den Mut dafür genommen habe, aber ich hab einfach ja gesagt, bin zusammen mit ihr und dem gesamten Ensemble runter in die Kantine vom Schauspielhaus und hab bis morgens um drei mit ihnen gefeiert. Bis morgens um drei! So etwas habe ich schon ewig nicht mehr gemacht! Alle waren unheimlich nett zu mir, vor allem als Vera wieder und wieder die Geschichte erzählte, wie sie mich angefahren hatte. Dabei wurde ihre Schilderung von Mal zu Mal dramatischer, am Ende fehlten nur noch ein Rettungshubschrauber und eine Straßensperre.
Dann hat sie mir auch ihren Bruder Patrick vorgestellt. Als ich vor ihm stand, konnte ich mich sogar daran erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben. Muss ein paar Jahre her sein, da habe ich tatsächlich mal etwas über ihn in der Zeitung gelesen oder ihn in einer Talkshow gesehen. Wir haben uns ganz normal unterhalten, als würde ich dazugehören. Er hat sich sogar für meine Arbeit interessiert, über die ich aber nicht so gern sprechen wollte, weshalb ich dem Thema ein bisschen ausgewichen bin. Patrick sieht Vera wirklich sehr ähnlich, die gleichen rotbraunen Haare, allerdings kurz und nicht bis zur Taille wie bei seiner Schwester und im Gegensatz zu Veras auch schon hier und da ein bisschen ergraut. Den »Rotschopf« hätten sie ihrem irischen Großvater zu verdanken, erzählte er mir. Dieselben Augen, die ich fast bernsteinfarben nennen würde. Und sogar die gleiche Himmelfahrtsnase haben
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