Alles öko!: Ein Jahr im Selbstversuch (German Edition)
sondern wir nehmen unser ganzes Leben auseinander. Anstatt einfach so weiterzuleben, wie wir es gewohnt sind und wie wir es gelernt haben, nehmen wir alles auseinander und überlegen uns, was davon wir behalten und wie wir es wieder zusammensetzen wollen. Das ist der Sinn und Zweck dieses Experiments.«
Als Ersatz für meine Einmalrasierer schenkte mein Vater mir ein Rasiermesser, doch abgesehen davon, dass ich lernen musste, mich damit zu rasieren, ohne mir die Kehle durchzuschneiden, gab mir die Konsumverzicht-Phase wenig zu tun.
Mit den drei ersten Phasen, die natürlich weiterliefen, gab es vieles in unserem Alltag, das sich geändert hatte und immer noch änderte, aber da wir beschlossen hatten, dass die vierte Phase sich im Wesentlichen darauf beschränkte, alles Nötige nur gebraucht zu kaufen, und wir nichts benötigten, fühlte es sich ziemlich leicht an.
Als wir ein paar aussortierte Sachen zum Secondhandladen von Housing Works brachten, entdeckten wir ein handgearbeitetes Schaukelpferd aus Holz. Die Mähne war aus Wolle, und es trug den Namen Miles, mit einer Schablone darauf gemalt. Offensichtlich hatte das Schaukelpferd einmal einem Jungen mit diesem Namen gehört, aber wir beschlossen, dass es einfach der Name des Pferdes war, und kauften es als Überraschung für Isabella.
Wir nahmen es mit nach Hause, wo Isabella sich sofort darauf stürzte und begeistert anfing zu schaukeln. »Komm her, Frankie«, rief sie dem Hund zu. »Komm, wir reiten.«
Zu meiner Überraschung empfand ich das alte, abgenutzte Schaukelpferd nicht als schmuddelig, sondern als Hüter alter Geschichten. Ich stellte mir vor, wie ein liebevoller, handwerklich geschickter Großvater es für seinen Enkel angefertigt hatte. Dieses Geschenk für Isabellaerfüllte mich mit viel mehr Wärme als irgendein anonymes Plastikding aus dem Spielzeuggeschäft.
Einige Zeit später fanden wir an einem Flohmarktstand in der Twenty-sixth Street eine blau-weiß gestreifte Louis-Vuitton-Bluse für Michelle. Sie brauchte eine kleine Aufmunterung, meinte sie, eine Erinnerung an die alten Shoppingzeiten. Der Standinhaber bemerkte dazu: »Wahrscheinlich sollte ich Ihnen das gar nicht verraten, aber die Bluse gehörte einer alten Dragqueen, die kürzlich gestorben ist.«
Ich musste an etwas denken, das mir Steffen Schneider, der Leiter der Hawthorne Valley Farm, erzählt hatte. Die Farm ist biologisch-dynamisch und folgt der Vorstellung von Rudolf Steiner, dass ein Bauernhof ein einziger lebender Organismus ist. Und im Fall der Hawthorne Valley Farm sind die Milchkühe das Herz dieses Organismus.
Die Herde grast den ganzen Sommer über auf einer 25 Hektar großen Weide, und einmal am Tag werden die Tiere zum Melken in den Stall geholt. Der Dung, der sich im Stall ansammelt, wird kompostiert und dann als Dünger für den acht Hektar großen Gemüsegarten verwendet. Doch wie Steffen mir erklärte, gab der Dung den Pflanzen nicht nur Nährstoffe, sondern er enthielt auch etwas, das in Kunstdünger niemals vorhanden war: Leben.
Die Kühe fraßen das frische Gras, das die Lebenskraft der Erde, der Mikroorganismen, des Regens, der Wolken, der Sonne, ja des ganzen Universums in sich vereinte. Während das Gras von den Kühen gekaut wurde und durch ihr Verdauungssystem wanderte, nahm es zusätzlich noch die Lebenskraft der Kühe in sich auf. Der Kuhdung, der dann auf dem Gemüsegarten verteilt wurde, war also konzentrierte Lebenskraft für die Pflanzen, die dort heranwuchsen.
Ich wusste nicht, wie wörtlich ich das nehmen sollte, aber ich fragte mich, ob es nicht etwas Ähnliches wie diese Vorstellung von weitergegebener Lebenskraft war, die mir Isabellas Schaukelpferd und Michelles Bluse so sympathisch machte. Die Geschichte der Bluse gab mir, genau wie das Schaukelpferd, ein Gefühl der Verbundenheit mit denMenschen, denen sie zuvor gehört hatten. Und dieses Gefühl gefiel mir irgendwie besser als das von den neuen Dingen. Denen fehlte die Geschichte.
Da Michelle nichts Neues kaufen durfte, fing sie an, in ihrem eigenen Schrank zu »shoppen«. Jedes Mal, wenn sie ein Kleidungsstück herauszog, zog sie auch eine Geschichte heraus, wie zum Beispiel damals, als sie und ihre Freundin Jen diesen Typen kennengelernt hatten. Oder als ihre Schwester Maureen ihr Kind bekommen hatte.
Ich habe ein Paar Manschettenknöpfe von meinem Großvater, und jedes Mal, wenn ich sie trage, bilde ich mir ein, dass ein wenig von seiner Haltung und Würde auf mich übergehen.
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