Alles über Sally
einfach. Dieser Tatsache schrieb Sally auch zu, dass sie sich kaum je mit ihm beschäftigte, nachdem er gegangen war. Aber solange er sich in ihrer Nähe befand, genoss sie seine physische Präsenz.
Erik hatte Humor, keiner strengte sich mehr an als er, Sallys Töchter zum Lachen zu bringen. Bei Emma gelang das bald einem, aber Alice war aus anderem Holz geschnitzt. Auch seine eigenen Kinder mochten ihn. Er behauptete, er habe nur deshalb Nachkommen in die Welt gesetzt, weil er Erben für seine Comic-Sammlung brauche.
Über eine anekdotenreiche Familiengeschichte schien Erik nicht zu verfügen oder legte keinen Wert darauf oder hatte alles, was irgendwie erzählenswert war, vergessen oder verdrängt, Nichts Besonderes , gab er auf einschlägige Fragen zur Antwort.
Nadja war in diesen Dingen auskunftsfreudiger. In der etwas undurchsichtigen Saga ihres Lebens ging es viel um Religion, Sexualität und Schuldgefühle. Es ließ sich eine ganze Mythologie daraus entwickeln, Großeltern, Eltern, Geschwister, ein bunter Haufen von Exzentrikern, ähnlich wie bei Sally, und zwischendrin sie selber, Nadja, als einziger Mensch und einzige Vernünftige unter diesen außer Rand und Band geratenen Göttern.
Angeblich hatte Nadja ihre Familie schon während der Schulzeit als Bürde empfunden, derer sie sich schnellstmöglich entledigen wollte. Auf dieses Vorhaben hatte sie ihre erhebliche Energie gerichtet, eine spindeldürre Musterschülerin, die Mein Weg nach oben verschluckt zu habenschien. Mit neunzehn schaffte sie es nach Wien. Dem ganzen Verein zu Hause habe sie keine Träne nachgeweint. Und als sie aus dem Westbahnhof getreten war, sei es ihr vorgekommen, als höre sie die Straßen und Häuser singen . Beruflich mache sie eigentlich nicht anderes, als dieses Singen zu imitieren.
Für ihr Imitieren wurde Nadja gelobt, sie sagte, es wundere sie selber, dass sie damit durchkomme. Die Kritiker beschrieben sie als eigenwillig, präzise und als jemand, der nichts Sentimentales in der Stimme hat. Sie galt als zuverlässige Technikerin und war auch für Schönberg zu haben. Von Schönbergs Musik fühlte sie sich musikalisch gefordert. Klagen kamen allenfalls in Form von Scherzen, man müsse froh sein, dass Schönberg kein HNO-Fachmann gewesen sei, sonst hätte er sich etliche seiner Werke nicht zu schreiben getraut.
Man brauchte ungefähr fünf Sekunden, um zu wissen, dass Nadja keine gewöhnliche Frau war, aber Jahre, um draufzukommen, was dahinter steckte. Sally wurde das Gefühl nicht los, eine Freundin zu haben, die sie kaum kannte. Bei Erik war es ziemlich einfach, ihn einzuordnen, doch die Persönlichkeit seiner Frau stückelte sich nur allmählich und widersprüchlich zusammen.
Eine Theorie, die Sally aufgestellt hatte, war die, dass Nadja eine verkappte Neurotikerin war mit einem ungewöhnlichen Potential an labiler Energie, die erstaunlicherweise für die Vorwärtsbewegung genutzt wurde. Was bei anderen Menschen nicht wusste, wohin es wirken sollte, war bei Nadja in Arbeitskleidung gesteckt und als Hilfskraft an der Gestaltung des Alltags beteiligt. Nadja selbersagte, sie funktioniere als Konstruktion des schieren Willens, sie könne täglich die Wutanfälle zählen, die nicht stattgefunden hätten.
Eine Ahnung von der Energie, die in Nadja steckte, streifte Sally schon beim ersten Zusammentreffen. Doch erst als sie gemeinsam zum Schwimmen gingen, begriff Sally, was Nadja täglich an Überschuss loswerden musste. Nadja sprang ins Wasser und kraulte auf die andere Seite des Entlastungsgerinnes und dann wieder zurück und dann wieder in die andere Richtung. Sally hätte ein Buch lesen wollen, kam aber nicht dazu, weil sie eine knappe Dreiviertelstunde lang fassungslos dieser schmalen Frau zuschaute, die weiter und weiter mit beiden Armen das Wasser aufwühlte, ohne unterzugehen, ja ohne den Eindruck zu erwecken, sich zu verausgaben.
Dass Nadja mit dieser Lebensweise Erfolg hatte, machte sie zu einem interessanten Menschen. Ohne Erfolg wäre sie bestimmt nicht zum Aushalten. Das dachte Sally. Und weil das Gewicht einer solchen Persönlichkeit getragen werden muss und weil Erik es seit zwanzig Jahren fertigbrachte, nicht in die Knie zu gehen, konnte er ebenfalls kein harmloser Mensch sein. Offenbar gelang es ihm, Nadja an den Wurzeln des Lebens zu halten und einen ausreichend stabilisierenden Einfluss auf sie auszuüben, so dass auch sie, die als genialisch Verschriene, auf dem Boden einer Gemeinsamkeit lebte. Neben ihm
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