Alles über Sally
überhaupt? Sympathische Frau. Ach ja, Sally, die Mutter seiner Kinder, ein nach außen gekehrter Aspekt seiner Persönlichkeit, eine verwundbare Stelle, wie alles Schöne in seinem Leben.
»Erstaunlich, dass er das kann«, sagte Nadja. »Die meisten Menschen leiden unter Schlafproblemen. Damit scheint er sich nicht plagen zu müssen.«
Als Alfred die Augen wieder aufmachte, blendete ihn das Deckenlicht. Er versuchte, die Menschen um sich herum zu sondern, es ging aber nicht, bestimmt trennte diese Personen sehr viel, bestimmt hatte jeder seine eigenen Gedanken, und trotzdem war es nicht möglich, sie auseinanderzuhalten. Erst als Alfred eine Hand auf seiner Schulter spürte, klarte sich die Situation ein wenig. Die Hand gehörte Nadja, sie stand neben ihm und hielt ihm ihr wächsernes,von der Müdigkeit aufgequollenes Gesicht wie eine Maske hin. Alfred wusste nicht, was er damit anfangen sollte, er blieb großäugig und stumm.
Nadja sagte, dass sie nach Hause gehe, sie sei müde. Ihre Nasenflügel waren weiß von einem unterdrückten Gähnen. Alfred spürte ihre Wangen an seinen Wangen. Und auch aus Sallys Mund kamen Worte. Zu Alfreds Verwirrung gab Nadja etwas zur Antwort, aus dem er nicht klug wurde, vielleicht hatte er den Anfang verpasst.
»Eine Bach-Kantate heißt Ich lasse dich nicht .«
Alfred sah ein sich entfernendes kleines Gesäß in einer knappen Hose.
Jemand sagte:
»Ich bleibe nicht mehr lange.«
Dann war es wieder still, nur der gespenstische Ton der altersschwachen Glühbirne oben in der Lampe und die Birke von draußen.
Alfred trank sein Glas leer, seine Kieferknochen bewegten sich kräftig, ehe er den Mund zu einer bitteren Grimasse verzog. Mit einer Handbewegung bedeutete er, man solle sein Glas nachfüllen; das geschah nur unendlich langsam, kam ihm vor. Ohne weiter daraus zu trinken, legte er beide Hände um das Glas. Seine Augen suchten in den Gesichtern der anderen nach dem Sinn der Worte, die er hörte. Lauter wirres Zeug. Was für ein seltsames, bizarres Schauspiel! Er versank erneut unter die Oberfläche dessen, was um ihn herum geschah.
Erik erzählte von Freunden, bei denen im vorletzten Frühjahr eingebrochen worden war. Das Paar hatte eine Faschingsparty besucht, im Winter, Schnee. Die Frau alsMann verkleidet, der Mann als Baby, in einem gestreiften Trikotanzug, der seinen dicken Bauch zur Geltung brachte, mit einem großen Schnuller um den Hals und mit Tränenperlen in den äußeren Augenwinkeln. Als das Paar nach Hause kam, herrschten im ganzen Haus Kellertemperaturen, es stellte sich heraus, die Verandatür stand offen. Die Polizei wurde gerufen, die Beamten waren rasch zur Stelle. Der Mann und die Frau steckten noch immer in ihren Faschingskostümen, der Mann mit seinem Schnuller um den Hals und den glitzernden Tränen in den Augenwinkeln. Die Polizisten schauten sich um, der eine Beamte sagte, er habe hinter dem Haus Fußspuren entdeckt von jemandem mit riesigen Füßen, Schuhgröße 48. Das waren die Spuren der Frau im Männerkostüm, sie hatte die Schuhe extra für diesen Abend ausgeliehen. Vor dem Eintreffen der Polizei war sie um das Haus gegangen, um nach dem Rechten zu sehen.
»Trotz aller Härten und Schrecken«, sagte Erik, »muss zuerst noch bewiesen werden, dass das Leben ernst ist.«
»Umso schlimmer, würde Alfred sagen.«
»Und du?« fragte er.
»Ich komme darüber hinweg«, gab Sally zur Antwort. »Ich habe die Hoffnung, dass der Anblick bei Tageslicht nicht mehr ganz so erschütternd sein wird.«
Es ist vorbei, redete sie sich zu. Warum sollte ich mir jetzt noch Sorgen machen? Es ist, als wäre ich beim Zahnarzt gewesen und hätte einen metallischen Geschmack im Mund. Aber der Bohrer ist abgestellt und hängt in der dunklen Praxis in seiner Halterung.
»Ich erinnere mich, als die Kinder klein waren, habe ichauch nicht gerne in der Nacht aufgeräumt. Ich räume lieber bei Tageslicht auf«, sagte sie.
Sie ließ einen kleinen Seufzer hören. Sie fragte sich, was Erik sah, was er empfand, woran er so angespannt dachte. Sie spürte, dass ihre Haut klebrig war von der Reise. Ihre Bluse war steif vom eingetrockneten Schweiß. Und im Kopf fühlte es sich an, als hätte sie dort Schwielen von der Angst und vom Zorn.
Nach einem kurzen Blick auf Alfred, der die verschränkten Arme auf den Tisch gelegt und den Kopf darauf gebettet hatte, nahm sie einen Anlauf und öffnete den Mund. Aber statt etwas zu sagen, streckte sie nur die Zunge heraus und leckte sich
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