Alles über Sally
wirkte sie jung und ausgeglichen und weiblich. Erik war so anders als die Kasperln , die gemeinhin mit solchen Frauen zusammen waren, man kam gar nicht auf die Idee, dass er ein Kasperl war, so gelassen, so normal und doch imstande, seinenWillen mit dem ihren zu koordinieren, ohne nur sinnlos der Nachgebende zu sein.
Trotz dieser nicht ganz einfachen Konstellation gehörten Erik und Nadja zu den wenigen Paaren in Sallys Umfeld, die glaubhaft von sich behaupten konnten, glücklich zu sein.
Die Möglichkeit, sich seinen Partner frei zu wählen, war historisch jung, und es wurde mit großer Unbekümmertheit davon Gebrauch gemacht. Als Sally und Alfred ans Heiraten dachten, befand sich das Experiment in einem Versuchsstadium, in dem sogar ein Gefühl für Dilettantismus noch fehlte. Partnerwahl galt als etwas, das im Geist der Freiheit erfolgen musste, wie Kunst, spontan und impulsiv. Eine sorgfältige Partnerwahl wäre für jeden, der einen Funken Fortschrittsgeist besaß, beschämend gewesen, denn alles Kalkulierte gehörte in die Welt der Spießer und somit in die Welt der Vergangenheit.
Die Aulichs waren einige Jahre jünger als die Finks, 1960 und 1962 geboren. Auf den ersten Blick kein großer Unterschied, doch hier machten sich auch kleine Unterschiede bemerkbar. Im Gegensatz zu Sally und Alfred wählten die Aulichs einander mit Bedacht. Sie sagten, sie seien sich von Anfang an einig gewesen, eine Ehe sei dazu da, dass zwei Menschen einander den Rücken freihalten und sich gegenseitig die Last abnehmen, sich vor anderen rechtfertigen zu müssen für das, was sie sind. Einmal hatte Nadja mit der für sie typischen Trockenheit gesagt:
»Liebe besteht mir zu sehr aus Sitzen und Warten.«
Mit demselben Pragmatismus waren die Aulichs bürgerlich geworden. In ihrer Kindheit hatten sie an der gleichendörflich-trüben Flasche gesaugt und sich später nur dank ihrer Begabungen von dort abgesetzt. Aus dem Milieu, das sie hinter sich ließen, nahmen sie ein Gespür dafür mit, dass es keine geringe Leistung ist, gewissen Verhaltensnormen zu entsprechen. Bürgerliche Lebenskultur bedeutete für sie ein hart erkämpftes Gut, und auch Konventionen empfanden sie nicht als Behinderung, sondern als Fassade, die Deckung bot für ein autonomes Leben. Erik fand dieses Leben bequem, und Nadja beschützte sich dort nach dem Motto, dass man sich am besten in der Mitte des Gebüschs versteckt. Sally hatte es in ihrer Kindheit nicht anders gemacht.
Was die Aulichs als Aufstieg empfanden, empfanden die Finks als Niedergang. Sally und Alfred waren in der Bürgerlichkeit, in der sie auf die Aulichs getroffen waren, ziemlich widerstrebend gelandet, teilweise ohne direktes Zutun und zunächst ohne spürbaren Gesinnungswandel. Wie zufällig waren sie in eine Abfolge von Ereignissen hineingeraten, die sie nicht aktiv betrieben hatten, angefangen mit der erzwungenen Rückkehr aus Kairo. Dann hatte sich Alice angekündigt, und Alfred hatte die Stelle im Völkerkundlichen Museum akzeptiert. Es folgte der Hauskauf, und spätestens nach der Geburt von Emma begoss die Realität des Familienlebens den alternativen Rausch mit Wasser. In einem mit Windeln vollgehängten Leben, mit einer Erstgeborenen, die immer, wenn die kleine Schwester schlief, hoffnungsvoll fragte, ob das Baby tot sei, verzichtete Sally auf weitere Traumproduktion. Zwischen Kind und Kind brauchte sie keine Utopien, sondern Strukturen, und zwar solche, die hielten. Der romantische Bonus der Jugend verfiel,die kleine Familie gewann rasch an sozialer Eindeutigkeit, wie’s so kommt.
Trotzdem erstaunlich, wie entschieden sie jetzt versuchten, die ihnen zugefallene Lebensweise zu verteidigen.
Die Küche war aufgeräumt, die Gläser, aus denen die Einbrecher getrunken hatten, standen kopfüber in der Spülmaschine. Nur der Kirschsirup an den Wänden erweckte ein wenig den Eindruck, hier sei jemand im Blutrausch abgestochen worden; und die Messer hatte man zuvor an den Tischkanten ausprobiert. Auf einer der Sirupschlieren krabbelte eine blauschimmernde Fliege. Alfred, der das Bedürfnis hatte, noch ein wenig zu stehen, ging mit seinem Glas zum Küchenfenster, im Vorbeigehen machte er eine Handbewegung, als wollte er die Fliege verscheuchen, doch bevor sie sich gestört fühlte, ließ Alfred die Hand wieder sinken.
Durch das Küchenfenster waren die Einbrecher ins Haus gelangt. Sie hatten so lange an der Einfassung herumgestemmt, bis sowohl der Rahmen als auch die Scheibe zu
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