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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
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über die Lippen. Dann hing sie weiter ihren Gedanken nach, sehr merkwürdig, ein sehr merkwürdiger Tag. Dieser Tag hatte ihr Leben leichter gemacht und musste gleichzeitig dafür herhalten, dass sie sich fragte, was aus den Utopien geworden war, die sie gehabt hatte, als sie hier eingezogen war.
    Ist wirklich sie das gewesen, die junge Frau mit den strahlenden Augen, dem dicken Bauch und dem Kind an der Hand? Und Alfred, der jetzt einen Alptraum hatte und im Traum zu reden anfing: Wie er in der ersten Nacht so stolz über ihr gewesen war und sich beim Sex ein wenig aufgerichtet und zu ihr heruntergeschaut hatte wie Moses auf das Gelobte Land. Im Gesicht hatte er den glimmenden Ausdruck des reinen Glücks gehabt. Ist wirklich er das gewesen?
    Und jetzt? Wovon träumte er? Bestimmt nicht vom Glück. Zu gönnen wäre es ihm, er hätte ein bisschen Glück verdient. Viel eher kämpfte er mit Museumsbesuchern, dietrotz seiner Rufe, dass Anfassen verboten sei, in den ausgestellten Dingen wühlten und die besten Stücke zu Boden schmissen. Oder er klammerte sich an die gestohlene Postkarte, die sich plötzlich ins Riesenhafte vergrößerte, sich in den Himmel aufschwang und bei nochmaligem Hinsehen nicht die acht kleinen Zeichnungen nordargentinischer Indiotrachten zeigte, sondern Krampfadern, in denen träge Kirschsirup floss.
    Sally stand auf, sie beugte sich über Alfred und streichelte seine Wange, um ihn zu wecken.
    »Alfred, wenn du hier schläfst, bekommst du einen steifen Hals«, sagte sie sanft.
    Er schielte aus schmalen Augenwinkeln zu ihr hin, er brauchte einige Momente, um einigermaßen zu sich zu kommen. Er war zerschlagen, Beine aus Eisen, Rücken aus Holz, Hände aus Steinen, die Augenlider aus Blei. Er lauschte auf etwas, das nicht in der Küche war, und als hätte er aus der Ferne Antwort bekommen, sagte er:
    »Ich muss ins Bett.«
    »Du hast im Schlaf geredet, Alfred.«
    »Ich glaube, ich will das gar nicht wissen.«
    Eine traurige Ziellosigkeit breitete sich über sein Gesicht. Als spürte er, dass in seinem Kopf nicht mehr alles mit rechten Dingen zuging, fügte er hinzu:
    »Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen.«
    Mit der Fahrigkeit des aus dem Schlaf Gerissenen rieb er sich das linke Ohr, es schmerzte, weil es zwischen Arm und Kopf abgeknickt gewesen war. Mit steifen Gliedern stand er auf, der schwere Körper stabilisierte sich nur mit ärgerlicher Unbeholfenheit, Alfred musste sich am Tischabstützen, damit er nicht hinfiel. Er stolperte durch einen letzten Satz.
    »Ich will mich bloß hinlegen und an die Uhr meines Vaters denken.«
    Dann ging er zu Sally, berührte mit beiden Händen ihre Brüste und tappte brummend zur Tür hinaus. Sally hörte ihn mit langsamen, schweren Schritten die Treppe hochsteigen, wegen der offenen Küchentür fuhr ein Luftzug durch den Raum, und für einen Moment bewegte sich auch der große halbkugelförmige Lampenschirm über dem Tisch mitsamt dem von ihm geworfenen Lichtkegel. Nachdem Sally die Tür hinter Alfred geschlossen hatte, nahmen Lampe und Lichtkegel wieder ihre vorherigen Positionen ein. Befangen in der plötzlichen Stille, zog Erik die rechte Handfläche über die Tischplatte, es entstand ein quietschender Ton.
    In seiner Verlegenheit fragte er:
    »Was machen wir jetzt?«
    »Ebenfalls ins Bett gehen«, sagte Sally.
    Ihr Blick verweilte länger als sonst auf ihm. Sie saßen da, bemüht, die Gedanken des anderen zu lesen oder wenigstens den Gesichtsausdruck zu deuten. Dann, nachdem sie ihn gedeutet hatten, senkten sie die Blicke, damit nicht noch mehr zum Vorschein kam, das nicht zum Vorschein kommen sollte.
    Kühle Windstöße drückten sich zwischen den Häusern herum, weiter nichts.
    »Und morgen die große Aktion«, sagte Erik.
    »Nicht grad das, worauf ich mich freue«, seufzte sie. »Mehr als nur das Putzen eines Puppenhauses, wie Nabokov gesagt hat.«
    »Ihr könnt die Gelegenheit nutzen und gleich auch wegwerfen, was ausgedient hat.«
    »Besprich das mit Alfred«, sagte Sally. »Komm, es ist Zeit.«
    Erik musterte Sally nochmals, bis in seinen Augen ein nachdenkliches Fragen war. Flüchtig verspürten beide den merkwürdigen kleinen Wunsch, den anderen zu küssen. Aber dieser Wunsch erlosch gleich wieder.
    »Also dann.«
    Der Abschied war eher fliegend als herzlich. Seltsam, dachte Sally, als sie langsam die Tür zuzog. Sie prüfte, ob die Tür auch fest geschlossen war. Dann ging sie die unteren Räume ab, bedrückt vom Gedanken an das, was am

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