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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
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bedrängt, die mit Ferialstimmung unmöglich in Einklang zu bringen war. Sally bewegte sich in einem engen Tunnel aus Telefonaten, behördlichen Prozeduren, Schadensbegutachtungen, Vertretergesprächen, Prospekten, Sicherheitsstufen, Kostenvoranschlägen, Rechnungen und Zahlen, überall Zahlen. Sallykannte nur wenige Dinge, die einem so sehr das Gefühl von harter Wirklichkeit vermittelten wie die Grundrechnungsarten. Ihr Gehirn war wie ausgebeult davon. Ausgerechnet in den Ferien war sie nicht nur knapp mit der Zeit, sondern auch knapp mit Inspiration. Im Schlagschatten des Einbruchs ließ das Leben nur stumpfsinnige Strategien zu, die Tagesarbeit war eintönig, niederdrückend und ermüdend. Vor allem die Vertreter zogen Sally den letzten Nerv. Sie war fassungslos angesichts der endlosen Lügen, mit denen diese Menschen ihr Brot verdienen mussten, sie fragte sich, wie sie es fertigbrachten, trotzdem ruhig und freundlich zu bleiben. Jedes Gespräch, das zu führen war, bescherte Sally eine Portion Stöhnen und Verdruss, so viele Lügen, sie selber könnte das nicht.
    Am schlimmsten war das ständige Warten auf irgendwelche Leute, die nicht kamen oder angesoffen waren. Und dann die sich wieder und wieder verzögernde Lieferung des neuen Fensterrahmens für die Küche. Dieser Engpass trug am heftigsten dazu bei, dass Sally und Alfred die scheußliche Erfahrung nicht hinter sich lassen konnten. Vor allem Alfred tat sich unglaublich schwer. Er ging nur unter paranoiden Vorsichtsmaßnahmen ins Bett, und sein Schlaf war die Fortsetzung des Kampfes mit anderen Mitteln.
    Die Diebe hatten viel Ersetzbares und manches Unersetzbare gestohlen, vor allem aber Alfreds Seelenfrieden. Solange das Küchenfenster nicht repariert war, fand er keinen ruhigen Moment. Seit Tagen wagte er sich nicht aus seinem kleinen Revier hinaus, nur das eine Mal, als er in die Shopping City Nord gefahren war und eine Puffen besorgthatte, eine Glock 17, und für Emma einen Bikini und für Gustav einen Punchingball. Obwohl Sally während Alfreds Abwesenheit in ihrem Zimmer ausgemistet hatte, hatte ihm der kleine Ausflug, bis er zurück war und seinen Besitz unangetastet fand, Stunden der Beklemmung beschert. Wenn Sally darüber nachdachte, wie das gehen sollte, wenn er am Montag wieder zur Arbeit musste, wurde sie ganz mutlos. Nach der Rückkehr aus der Shopping City hatte Alfred mehrfach den Begriff »psychische Quetschung« verwendet. Er sei überzeugt, seine Psyche sei von dem »Besuch« schwer »gequetscht«, es werde Tage brauchen, bis sich die volle Wucht der Verletzung zeige, und noch viel länger, bis die Symptome anfangen würden wieder abzuklingen.
    Selbst die Anwesenheit der Kinder hatte wenig dazu beigetragen, das Gefühl der Bedrohtheit bei Alfred zu lindern. Die üblichen Verheißungen des Heimkommens waren auch für die Kinder entfallen, aber seit sie begriffen hatten, dass ihnen die Versicherung das Verlorene zum Neuwert ersetzte, flaute ihre Gereiztheit ab, und selbst das alltägliche Streiten klang wieder unbekümmerter. Dabei waren die Kinder hier mehr zu Hause als Alfred und Sally, die das Haus gekauft hatten. Die Kinder waren hier aufgewachsen . Sie kannten nur dieses Haus als Ort der Geborgenheit, und trotzdem steckten sie die Härten des Einbruchs ziemlich gut weg. Besser als Alfred. Bei ihm konnte man zusehen, wie Wut und Hilflosigkeit am Lebensfaden nagten. Gedanken über den Einbruch bestimmten sein Verhalten Tag und Nacht. Aufgedunsen von einem unverstandenen Unglück, irrte er durchs Haus mit der Frage,warum so etwas ausgerechnet ihm passierte. Warum ausgerechnet mir? Mir? Mir? Es war überhaupt keine Haltung mehr da.
    Weil im Fernsehen Tennis übertragen wurde, brachte Sally das Gespräch auf Arthur Ashe, den früheren Wimbledon-Sieger. Sie erinnerte sich, dass er seine Aidserkrankung mit den Worten kommentiert hatte, er habe sich, mit dem hochgestemmten Pokal in Händen, auch nicht gefragt, warum geschehe das ihm. Sally versuchte, Alfred mit solchen Argumenten aus seinem Selbstmitleid herauszureißen. Aber er hob nur die Schultern, starrte sinnlos auf einen nichtssagenden Punkt und murmelte:
    »Ich begreife es nicht.«
    »Die Aufgabenstellung besteht nicht darin, es zu begreifen, sondern darin, einzusehen, dass diese Dinge passieren. So etwas gibt’s. Damit fertig zu werden wird von erwachsenen Menschen erwartet.«
    Aber egal, was Sally vorbrachte, es war sinnlos. Nichts konnte etwas an Alfreds Unglück ändern. Oder

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