Alles über Sally
sich seine Atmung veränderte, als sei dies der glücklichste Moment bisher. Und um ihm noch einigeSekunden zu lassen, in denen er in die Landschaft hinausschauen konnte, prüfte Sally, ob die Knopfleiste an ihrem Kleid richtig saß.
»Ich habe meinen Bikini dabei«, sagte sie. »Komm, lass uns zur Alten Donau fahren, dort können wir weiterreden. Deine schwarze Unterhose geht als Badehose durch.«
Die Alte Donau ist ein totes, nur bedingt schiffbares Gewässer in der Form eines Bumerangs, nach der Regulierung des Flusses in einem Altarm der Donau entstanden und jetzt ein Naherholungsgebiet im Norden der Stadt. Im sicheren Gefühl um das Wiener Kastenwesen ließen sich Sally und Erik in einem frei zugänglichen und grasbewachsenen Uferbereich vis-à-vis des Gänsehäufel nieder. Hier spiegelte sich der blaue Himmel in den Sonnenbrillen alleinerziehender Mütter, auf den Bäuchen biertrinkender Proletarier und auf den kahlen Köpfen und Badehauben der Mindestpensionisten. Ein junger Mann, der seine Ankündigungen in einer südslawischen Sprache machte, nahm Anlauf. Unter den gierigen Blicken seiner Kinder, die bereits im Wasser waren, rannte er über die Planken eines betonierten Uferplateaus, schloss, als er bereits in der Luft war, die Augen, zog die Knie vor die Brust und schlug unter dem Juchzen der kleinen Zappler im Wasser auf. Für eine Sekunde war die Luft erfüllt von buntem Glitzern.
Der junge Mann beeilte sich, wieder an Land zu kommen, um den Vorgang zu wiederholen.
Den Bikini hatte Sally im Hotel untergezogen. Während sie aus dem Kleid schlüpfte, lehnte Erik am Geländer über dem Abgang, wo der triefende Wasserspringer heraufstapfte.Von dort sah man links in die Krümmung des Gewässers hinein bis zur mächtigen Brücke der Wagramer Straße und auf der anderen Seite den Rechtsschwung des ehemaligen Flusslaufs hinauf bis zum dünnen Strich des Kaisermühlendamms und der Donaustadtbrücke. Dahinter ragten zwei Schornsteine hoch. Das Sonnenlicht wogte prickelnd in Sallys Gesicht. Sie betrachtete Erik, er lehnte es ab, ebenfalls ins Wasser zu gehen, er begründete es damit, dass er Angst habe, die Unterhose würde nicht schnell genug trocknen. Es war ausgemacht, dass er Nadja um halb acht bei Bekannten abholte, er fand, ein nasser Hintern wäre nicht grad das richtige.
»Ich schau dir zu«, sagte er.
Eine dicke Frau tappte grätschbeinig über die rutschfest mit Teppich beschlagenen Stufen zum Wasser. Als sie bis zu den Oberschenkeln drin war, sah sie sich nach allen Seiten um, dann ließ sie sich fallen. In diesem Moment streifte sie ihr Alter, ihre Pfunde und ihre Krankheiten ab, sie schien jetzt jünger und schöner und Teil der Landschaft. Sally folgte der Frau. Nach dem dreitägigen Wetterumschwung Anfang der Woche war das Wasser nicht übermäßig warm. Sie sprang hinein, ihr Intimbereich musste den ersten Schreck wegstecken, dann war es herrlich. Ihre Bewegungen enthielten noch Reste vom nachmittäglichen Sex, aber es waren die klaren und einfachen Bestandteile. Ihr Körper fühlte sich leicht und geordnet an. Er schwebte fast gewichtslos in der dunkelgrün leuchtenden Flüssigkeit.
Mit kräftigen Bewegungen schwamm Sally hinaus, sie schnaubte Gischt vor sich her, ließ kleine Kräuselwellen hinter sich zurück, tauchte plötzlich unter, wuschelte sichunter Wasser die Haare, ehe sie wieder nach oben stieß und den Kopf in den Himmel hielt. Sie strich sich das Haar mit beiden Händen nach hinten, dann legte sie sich auf den Rücken. Sie hörte das Plätschern ihres Beinschlags. Der Himmel über ihr sah unwirklich aus, als wäre er voller winziger Risse und Unebenheiten. Mit tief versonnener Miene starrte Sally hinauf, dann auf alles, was in ihr Blickfeld kam, wenn sie ihren Kopf zur Seite neigte. Das Glück, das sie empfand, wirkte wie eine Vergrößerungslinse. Dick und voll standen die Linden und Pappeln vor den flachen Holzbaracken der Ruder- und Segelvereine, in der dichten Masse des Wassers schwammen die Kinder und Entlein viel größer als sonst. Auch die Gebäude der UNO-City und die Hochhäuser der Donaustadt auf der anderen Seite waren eigentümlich mächtig hingestellt, und unmittelbar hinter diesen Häusern sah Sally die Spitze des Donauturms, silbern blitzend wie eine Injektionsnadel, gegen den schon abendlichen Himmel gerichtet. Vielleicht impfte sich die Stadt mit dieser Nadel gegen alles Böse in der Welt oder verschaffte sich schöne Halluzinationen, damit sie vergessen
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