Alles über Sally
allen Standesämtern standen die Brautpaare Schlange. An Heiratswilligen schien es nicht zu fehlen, nur an Phantasie. Die Brautpaare glichen einander, passend zum einfallslosen Datum. Unbekümmert ließen sie sich vor dem Dom fotografieren, dessen Fassade nicht nur mit Allegorien der Tugend geschmückt war.
»Zum Glück sind wir schon verheiratet«, sagte Sally lachend.
Erik erwiderte das Lachen ein wenig säuerlich, aber seine Unbeschwertheit gewann rasch wieder die Oberhand. Im Weitergehen war er beschwingt wie sie. Leichten und schnellen Schritts entfernten sie sich, zwei Menschen, die glücklich waren und trotzdem gerne schon woanders sein wollten.
Weil es im 1. Bezirk wegen der Hochzeiten zu viele Menschen gab, die sie kennen konnten, gingen sie zum Schwedenplatz und über die Taborstraße zum Karmelitermarkt. Dort setzten sie sich in die hinterste Ecke eines Lokals, von wo man durch das Fenster ein Stück des Platzes überblicken konnte.
»Hier kann man atmen«, sagte Erik.
Ihre Gesichter legten ein paar Schichten ab. Sätze purzeltenineinander, als sie die ganze Wirtschaft über Jahre hinweg besprachen. Offenbar hatte es bei Erik schon vor längerer Zeit gefunkt, er konnte sich an alles erinnern, was Sally jemals getan oder gesagt oder getragen hatte. Er hatte sie in Hochform und in miserablem Zustand erlebt, mehr als einmal war er sehr früh zu ihnen ins Haus gekommen, um Alfred für einen Ausflug abzuholen. Und weil Alfred es nie schaffte, zum verabredeten Zeitpunkt fertig zu sein, tranken Erik und Sally in der Küche Kaffee. Sally in einem kürbisgrünen Morgenmantel aus Flanell, ohne Make-up, schreckliche Haare, noch im Halbschlaf, in Schlapfen, unter dem Morgenmantel in Shorts. Nicht grad die Verfassung, in der sie sich normalerweise präsentierte. Erik schien nie Notiz davon zu nehmen oder sich drum zu kümmern, er flirtete entspannt, und sie fühlte sich in seiner unaufdringlichen Gesellschaft wohl. Aber jetzt erinnerte er sich sogar an die Farbe der Schlapfen.
Er zog ein Geschenk aus seiner Anzugjacke, einmal habe Sally erwähnt, sie möge Eau de Cologne, was weder er noch Alfred verwendeten. Er gab ihr eines, Grey Flannel , als kleine Reminiszenz an den alten ausgefransten Morgenmantel. Sally roch daran, absolut wunderbares Zeug.
Es erregte sie sehr, an den Morgenmantel zu denken. Sie hätte Erik gerne umarmt, stattdessen lachte sie. Manchmal ist auch ein Lachen ein erotischer Vorschuss.
»Ich freue mich«, sagte sie.
»Es hat keinen Sinn, auf dem Geld zu hocken, wenn man etwas Gescheites damit anfangen kann«, sagte er. »In Lebensfreude umsetzen ist gescheit.«
Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten entdeckten sie, dass sie dieselben Lieblingsspeisen hatten und dass sie vor vielen Jahren dieselben Theaterstücke gesehen hatten. Sie versuchten, ihre Lebenswege nachträglich zu synchronisieren, sie schufen Berührungen auch dort, wo sie einander noch gar nicht gekannt hatten. Ihre Schulzeiten berührten einander. Ihre Zeit an der Universität und ihre Ehen berührten einander. Ähnlicher Jahrgang, ähnliche Musik, ähnliche Bücher. Sie sprangen zwischen den Jahren und stellten nachträglich Nähe her, es war, als bauten sie möglichst viele Brücken, die sie in ihrem Verlangen nacheinander benutzen konnten.
Die Lieblingsspeisen schlangen sie hinunter, um keine Zeit zu verlieren, auch das Schlingen im Dienst der gemeinsamen Sache: verwandte Seelen! Als sie wieder auf der Straße standen, war es Viertel nach eins, ein klarer heller Glockenton wurde vom Kirchturm über den wässrigen Teil Wiens getragen. Sie stiegen in ein Taxi, nannten den Namen des Hotels, zu dem sie gebracht werden wollten. Und endlich, in der mobilen Abgeschiedenheit des Wagens, küssten sie einander. Erik hatte eine glatte Zunge, Sally fand, das passte zu ihm.
Das Taxi fuhr sie zum Vienna Danube, das Zimmer lag im siebten Stock und hatte Blick auf den Fluss. Sally war begeistert. Minutenlang stand sie am Fenster, der Fluss floss geräuschlos hinter der Scheibe und sah auch geräuschlos aus. Sally fragte sich, was man sehen würde, wenn man ihre Beziehung zu Erik von oben betrachten könnte. Bestimmt nichts so Geradliniges wie den regulierten Fluss im Bereich der Stadt. Mehr etwas Verschlungenes und Biegsames.Das dachte sie. Und sie hätte den Gedanken gerne weitergedacht, aber Erik, in ihrem Rücken, redete auf sie ein, ziemlich romantisches Zeug, wenn auch nicht gänzlich unpassend für die Situation. Unter anderem sagte
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