Alles über Sally
nicht erinnern konnte, weggeworfen. Aber bestimmt gab es auch in der Nationalbibliothek ein Exemplar. Sie hatte Erik davon erzählt, er hatte angekündigt, den betreffenden Jahrgang aus dem Magazin holen zu lassen, Jahrgang 1980.
Mittlerweile war Sally zweiundfünfzig, sie lag in der Alten Donau auf dem Rücken, nahm den Fischen unter sich die Sonne und horchte, wie das Wasser tönte und wie die Hitze summte. Immer wieder schloss sie die Augen, alles war schwankend, sie dachte, sie könnte seekrank werden vom bloßen hier Liegen. Ähnlich fühlte sich ihr Denken an. Es war, als würde sie weiterhin gevögelt, aber nicht von Erik (was dachte er die ganze Zeit? hatte er erreicht, worum es ihm ging?), sondern in einem höheren oder wenigstens allgemeinen Sinn von den Elementen und ihrer Liebe zu den Elementen und zum Leben. Sie fühlte sich als Teil eines großen und gleichmäßigen Schwingens, Schwankens und Kreisens, ein Schwingen, Schwanken und Kreisen der Landschaft, während am Ufer die Männer warteten, alle, die wichtigen und unwichtigen, der mit dem Cowboyhut und der mit dem Turban, der in der Uniform und der mit den abgesägten Hosen, der mit dem Bubenkörper und der mit dem Bart und der, bei dem sie sich hinterher fragte, ob das wirklich hatte sein müssen, und manchmal zwei gleichzeitig,von denen nur der eine Bescheid wusste, Alfred sehr oft, Erik zum ersten Mal. Er rief ihr zu, dass es Zeit zum Aufbruch sei.
Die Sonne begann trüb zu werden. Aufgrund der sich ablösenden Schichten klaren Lichts war das Wasser noch dunkler geworden, auf den Badestegen und Liegewiesen war es schon still. Sally kam aus dem Wasser, ihre Bewegungen hatten etwas Weiches und Nachgiebiges, eine angenehme Unruhe vibrierte unter ihrer Haut. Auf der obersten Stufe des Abgangs blieb sie stehen, sie neigte den Kopf zur Seite und wrang Wasser aus ihren Haaren. Jetzt fröstelte sie ein wenig. Nach dem Abtrocknen schlüpfte sie in ihr Kleid, eine Libelle blieb auf Armeslänge vor ihr stehen und schaute mit großen Augen dabei zu, wie Sally unter dem Kleid das Oberteil des Bikinis gegen den BH wechselte. Keine zehn Meter daneben zog sich eine junge Frau ganz offen um, ohne Provokation, mit einem so deutlichen Akzent von entspannter Gedankenlosigkeit, dass Sally betroffen war und sich seltsam angesprochen fühlte. Darin hatte die jüngere Generation Sally überholt, die jüngere Generation hatte auch die Scham überwunden. Bei der jungen Frau wirkte der Vorgang unbekümmert und hatte etwas Helles und Klares, so alltäglich wie Wassertrinken, so normal wie beiderseits gewollter Sex zwischen zwei erwachsenen Menschen.
Für Eriks Augen machte Sally eine Kopfbewegung, sie lenkte seine Aufmerksamkeit auf die junge Frau, die sich gerade mit nacktem Busen über ihre Badetasche beugte.
»Heute ist es sehr interessant, eine junge Frau zu sein«, sagte sie mit einem neidischen Unterton.
»Nur für eine junge Frau? Ist es für dich nicht interessant?« fragte Erik, dabei wölbte er nachdenklich eine Augenbraue.
»Anders«, sagte sie und warf den Kopf mit dem feuchten Haar nach hinten, für einen Augenblick öffneten sich die Falten am Hals und die weiße Haut darin blitzte auf. »Ich kann nicht mithalten, weil ich mich immer noch insgeheim dafür rechtfertige, dass ich eine Frau bin. Das ist leider so, wenn man sich als Kind diese Krankheit zugezogen hat, die ist nicht so leicht zu kurieren, ich meine das leise Bedauern, nicht als Mann geboren worden zu sein.«
»Nie darüber hinweggekommen?« fragte er.
»Darüber hinweggekommen schon«, antwortete sie. »Aber ich erinnere mich daran, dass ich’s mir gewünscht hätte. Deshalb gehöre ich zu den Frauen, die sich unterm Kleid umziehen. Das Anstandsgefühl würde es nicht zwingend verlangen. Ich könnte mir genauso gut einfach nichts scheißen.«
Für einen Augenblick waren Eriks Augen größer, grauer, neugierig. Sally konnte sehen, wie sich der Abend in seinen Blick stahl. Erik machte eine abrupte Bewegung mit dem ganzen Körper, es war nicht ganz klar, ob daraus Bedauern oder verhaltene Ungeduld sprach.
»Wir müssen gehen«, sagte er.
»Ja, schade, der Tag ist schon vorbei.«
Alfred erwartete sie bestimmt schon, es war nicht nur Erik, der die Zeitfäden, die ihn mit zu Hause verbanden, an sich rucken spürte. Rasch tauschte sie mit Erik einen Zungenkuss. Er erinnerte an die Ereignisse des Nachmittags, auch Sally hatte sie noch nicht vergessen. Sie sah aufmerksamin sein Gesicht, wo die
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