Alles über Sally
Verschlungenheiten ihres Seins hineinzuleuchten. Das war es aber nicht, was sie anstiftete, Flirten zu ihrem Spezialgebiet zu machen. Viel eher verspürte sie einen großen Nachholbedarf. Und dann die Leere, die entstanden war, weil sie ihren Vater nie kennengelernt hatte, diese Leere musste irgendwie gefüllt werden. Außerdem stemmte sie sich gegen die strikten Ansichten ihres Großvaters, der nicht ungern die Wörter deutsch und sauber in einem Satz verwendete. Je länger der Gedanke, ein schlechtes Mädchen zu sein, in Sally nachklang, desto heftiger versuchte sie, diesen Gedanken zu vertreiben, indem sie sich wie ein schlechtes Mädchen benahm.
Auch Sallys Großvater gehörte zu den Männern, die ihr beim Schwimmen zugesehen hatten – dort ist der Augenblick, das allererste Mal, der Anfang von Himmel und Erde, von Wasser und Luft, von Schönheit und Zorn.
Sally sah einen älteren Mann und ein kleines Mädchen an einem klaren Sonntagnachmittag; atmosphärisch hatte sie den Eindruck, dass es einer dieser normalen Sonntagnachmittagein ihrer Kindheit war, schön, warm, grün mit einem weißen, leicht grauen Himmel. Es fühlte sich so an, als hätte es viele solcher Tage gegeben, aber sie wusste, das stimmte nicht, diese Tage waren selten.
»Traust du dich?« fragte der ältere Mann herausfordernd.
»Ja«, sagte sie mit ihrer dünnen Kinderstimme, »ich trau mich.«
»Bist du sicher, dass du dich traust?«
»Ja, ich trau mich«, sagte sie entschlossen.
Sally in ihrer kleinen gelben Badehose, neu und ordentlich, die Badehose saß fest in der Mitte eines schmalen, braungebrannten Körpers, leicht vorstehender Nabel, praller Brustkorb, glatte, glänzende Haut, leuchtend grüngraue Augen, pausbäckig, stupsnasig, mit einem Wusch gelockter rotblonder Haare, die dort, wo sie einzeln in die Sonne ragten, als blonder Strahlenkranz leuchteten. Sally wollte sich ein bisschen Schneid anschaffen, legte sich auf den Rücken und reichte dem Großvater ihre Hände und Füße. Der Großvater stand am Ende des Stegs mit dem Rücken zum Wasser, er fasste seine fünf- oder sechsjährige Enkelin an den Knöcheln ihrer Extremitäten, schaukelte das Kind als kompaktes Bündel zwischen seinen gespreizten Beinen, krummrückig pendelte das Kind über den Planken, dann holte der Großvater Schwung, und noch während Sally »Bitte nicht!« rief, katapultierte der Großvater sie mit Wucht nach vorn und in hohem Bogen über seinen Kopf nach hinten, wo er das Kind losließ. Sally quiekte, sie sauste durch die Luft, sie wusste nicht, wo oben und wo unten war, platsch, war sie drin. Und gleich nochmal, sie impftesich mit Mut, es war ein erster Schritt, Resistenzen auszubilden.
»Willst du nochmal?«
»Ja, ich will nochmal«, sagte sie.
Kopfüber, mal mit den Beinen, mal mit dem Hintern voraus, dann wie eine Kröte auf den Bauch. Sie beklagte sich nicht, wenn sie flach auf den Rücken klatschte, was nicht hieß, dass ihr der Schmerz egal war. Doch auch das Wegstecken des Schmerzes war etwas, was Linderung verschaffte. Sally weinte nur in Ausnahmefällen, meist hielt sie es zurück, damit sie dem Vorwurf entging, das sei ihr feuchtes britisches Erbe.
Damals hatte sie Mut besessen, sie glaubte mit einigem Recht, dass sie heute nicht mehr so mutig war. Irgendwann war der Mut verbraucht. Siehe Alfred. Sie selber hatte vielleicht noch die Hälfte von früher. In Sachen Offenheit und Neugier sah es mit den Reserven ein wenig besser aus, zum Glück.
Im Alter von zwanzig war sie schwierig, aufmüpfig, egoistisch, ungeduldig und sinnlich gewesen, dabei schnell, wendig und unberechenbar; wie ein Schwarm Vögel. Um Erfahrungen zu sammeln, hatte sie sich ständig in Situationen begeben, denen sie nicht gewachsen war, sie hatte keine Verletzung gescheut, ständig war sie am Rand mehrerer Beziehungen herumgeschlichen, immer irgendwo in gestohlenen Momenten, inmitten wilden Vorwärtsstürmens. Wenn auf der Straße ein Mensch totgefahren worden war, war sie stehengeblieben, um es sich anzusehen. Und wenn sich ihr die Möglichkeit geboten hatte, dabeizusein, wenn ein Schwein abgestochen wurde, hatte sie sichden Anblick nicht entgehen lassen, und beim nächsten Mal gleich wieder, selbst wenn beim ersten Mal Schlafstörungen dabei herausgekommen waren.
Einmal war sie für ein Studentenmagazin nackt Modell gestanden, für den Frieden in der Welt. Alfred versteckte noch irgendwo ein Heft, ihr eigenes hatte Sally in einem Zorn, an dessen Grund sie sich
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