Alles über Sally
den Jahren hatte ich keine so anstrengenden Ferien! So weit weg vom Ideal! Jetzt muss ich endlich die Schulsachen vom vergangenen Schuljahr ordnen. Und den Schreibtisch aufräumen und und und.
Unter den Kolleginnen und Kollegen kannte Sally niemanden, der sich auf das Ende der Ferien freute, das war ein Indikator für die Qualität des Berufs. In anderen Berufsgruppen hieß es nach dem Urlaub zuweilen: Ich freu’ mich wieder auf die Arbeit. Von Lehrern hörte man das nie. Die Aussicht, dass einen die Kinder wieder vom ersten Tag an mit den leuchtenden Augen von Hunden anschauten, denen man einen dicken Knochen hingeworfen hat, war äußerst realistisch, das machte das Ende der Ferien ziemlich bange.
Arbeitsmäßig war die erste Schulwoche nicht allzu schlimm, doch der Körper musste sich auf den anderen Rhythmus und die vielen Bakterien einstellen, die er schonwieder vergessen hatte. Und auch die Psyche hatte Mühe, sich an die neuen Belastungen zu gewöhnen. Wie jedes Jahr wurde Sally in der ersten Woche von einer großen inneren Unruhe befallen, die grundlegenden Sinn- und Existenzfragen kamen zu Schulanfang immer geballt, das war nichts Neues. Die viele Zeit, die mir gestohlen wird! Warum muss ich mich dauernd mit anderen Menschen beschäftigen? Warum tue ich mir das an?
Tatsächlich verlangte der Schulanfang eine Beschleunigung von null auf hundert in kürzester Zeit, körperlich, psychisch, die ganze Person war betroffen. An den ersten Schultagen ging Sally durch die ihr zugewiesenen Klassen, alle Schülerinnen und Schüler sollten zu Wort kommen, zu allen sollte eine Verbindung hergestellt werden, das war bei denen, die Sally aus früheren Jahren kannte, nicht allzu schwer. Die neuen Gesichter jedoch verlangten die volle Aufmerksamkeit. Innerhalb kürzester Zeit musste Sally mit siebzig jungen Menschen ins Gespräch kommen, von denen sie am letzten Ferientag noch nichts gewusst hatte. Wer waren diese Menschen? Woher kamen sie? Rätsel über Rätsel. Aber nach anderthalb Wochen konnte sie über jedes dieser Kinder Geschichten erzählen, das zeigte, wie viel sie in kürzester Zeit aufnahm. Nicht einmal die beste Freundin wollte sie in dieser Phase treffen, so ausgelaugt war sie. Und erst nach zwei oder drei Wochen wich das Ausgelaugtsein einer Erschöpfung, die sich nicht nur mit Schlaf, sondern auch mit Genuss bekämpfen ließ. Das Sinnliche war von den Anstrengungen des Tages dann nicht mehr ganz so stark betroffen.
Jetzt ging Sally wieder mehr weg, und weil Alfred lieberdas Haus hütete, als sie zu begleiten, machte sie sich allein auf den Weg, ging natürlich nicht allein, sondern mit Erik. Nach zwei Monaten Affäre konnte sie sich zuverlässig auf Lügen stützen, die einen stabilen Platz in Alfreds Alltag ergattert hatten. Im Unterschied zu Gefühlen spielten sich Lügen rasch ein.
Und auch Sallys Tränensäcke wurden wieder kleiner.
Den Schulkindern sah man ebenfalls an, dass ihnen die Umstellung vom Sommer auf den Herbst zu schaffen machte, sie gähnten viel und waren verträumt. Anfang der zweiten Schulwoche hatte Sally während der Unterrichtszeit auf der Treppe einen elfjährigen Buben gesehen, der offenbar losgeschickt worden war, um einen Besen zu holen. Der Bub stieg sehr langsam die Stiegen hinauf und schwang den Besen vor und zurück, tief in Gedanken, als befinde er sich auf einer Wanderung durch den Wienerwald. Der Anblick des Buben hatte Sally berührt, sie hatte gedacht: Ja, den Kindern geht es nicht besser als mir. Und obwohl die hinter ihr liegenden Ferien völlig untauglich gewesen waren als Schockabsorber nach dem ganzen Stress des vorigen Schuljahres, freute sich Sally auf Weihnachten als Kompensation für die noch bevorstehende Reihe an kräftezehrenden, von Schufterei geprägten Unterrichtstagen. Der Blick in die Zukunft kam ihr zwischendurch entmutigend vor, Tage und Tage, einer hinter dem andern, endlos wie die Kavallerie in den Westernfilmen, die Alfred so gern mochte.
Alfred aus Schenkenfelden! Ja. Wenn Sally von der Schule nach Hause kam, hatte sie seine unterstützungsbedürftige Gegenwart unter der Nase. Statt Ruhe, die sieeigentlich brauchte, bekam sie einen Mann, den sie nicht liebte und der ihr Dinge aufdrängte, die sie nicht interessierten. Er hörte auch nicht auf zu reden, wenn sie ihn darum bat, er fand, dass er ein Anrecht darauf hatte, seine Frau in alles einzuweihen, was ihm an Paranoia durch den Kopf ging. Am liebsten hätte Sally ihm gesagt, er solle an
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