Alles über Sally
bereitwillig aufnahmen.
»Der Unterschied liegt in der Betrachtungsweise, würde ich mal sagen. Wenn jemand Überzeugungen hat und bereit ist, sich für diese Überzeugungen der Lächerlichkeit auszusetzen, ist das eine Haltung, die moralischen Wert besitzt. Hingegen besitzt es allenfalls ökonomischen Wert, wenn jemand immer der Mehrheit gefallen will, wie bei den Talentshows, die ihr euch anseht. Die Wirtschaft versucht, uns alle dorthin zu bringen, dass wir für Fernsehen, Telefonieren, Kalorien, Sex und Leistung leben. Und wenn genug Leute mitmachen, dürfen sie sich als normal empfinden. Alle anderen sind nicht normal, die stehen in den Augen der Mehrheit als Trottel da.«
Jetzt hatte Sally wieder einmal ihre Grund- und Glaubenssätze publik gemacht. Und wenn schon! Die Schülerinnen und Schüler wussten ohnehin, wo Sally weltanschaulich stand, sie fühlten sich dadurch nicht gestört. Sally hatte die Beobachtung gemacht, dass es seitens der Jugendlichen fast nie zu absichtlichen Provokationen kam, sie fanden, Sallys Zeit war vorbei, Geschichte, das hatte man gesehen. Als historische Epoche fanden sie Sallys Jugend sogar interessant, das hatte seinen Reiz, wie der Vietnamkrieg, aber überholt. In den Augen ihrer Schüler, das merkte Sally beim Unterrichten, gehörte sie einer Welt an, die historisch geworden war.
Ähnlich musste es einem Dragoner gegangen sein, der jahrelang für den Kaiser Schlachten geschlagen hatte und Anfang der zwanziger Jahre aus der Kriegsgefangenschaftzurück nach Wien gekommen war. Der musste sich auch gedacht haben: Schön blöd bin ich gewesen.
Sally blickte in die Runde. Sie sah lauter junge Menschen, keine Kinder mehr und noch keine Erwachsenen, unendlich vielfältig und doch eins in ihrem Bestreben, nicht als Verlierer dazustehen. Laura, eines der Mädchen in der Klasse, auf die Sally stand, hob die Hand. Sally ermunterte sie mit einem Kopfnicken.
»Frau Professor, das ist typisch für Sie. Gegen alles, was schön ist, sind Sie negativ eingestellt. Sie sind gegen den Muttertag, gegen Weihnachten, gegen Telefonieren und sogar gegen Essen. Sie machen alle schönen Sachen schlecht, das geht mir auf die Nerven.«
Wenn etwas schieflief, war es, als wäre ein Tropfen dunkler Tinte in ein Glas mit sauberem Wasser gefallen. Diesem Tropfen konnte Sally zusehen, wie er sich in Wolken ausbreitete und das Wasser trübte. So fühlte sie sich. Und sie wollte dieses Gefühl wieder loswerden, so schnell sie konnte, sie sah, dass auch Laura sich in ihrer Haut nicht wohl fühlte, bestimmt hatte es ihr große Mühe bereitet, zu sagen, was sie gesagt hatte, sie hatte richtig rote Backen bekommen.
»Laura, ich werde darüber nachdenken, danke für den Hinweis.«
Sally sagte es mit Nachdruck, aber auch mit einem versöhnlichen Unterton.
Lauras Augen glitzerten durch getuschte Wimpernzacken, dann senkte das Mädchen den Blick. Mit einer abrupten Wendung zur Tafel signalisierte auch Sally, dass das Thema beendet war.
Auf dem Weg nach Hause, als sie im Bus an ihren kreidigen Fingern rieb, weil sie vergessen hatte, sich nach der letzten Stunde die Hände zu waschen, dachte Sally daran, dass sie ihrem Großvater im Alter von vierzehn Jahren das erste Mal widersprochen hatte, ohne gleich wieder nachzugeben. Biographisch war das ein einschneidendes Ereignis gewesen, eine Art Epochenwende. Like a Virgin. Auch an die letzte Ohrfeige, die sie von ihrem Großvater bekommen hatte, erinnerte sie sich deutlich. Es musste gegen Ende des Vietnamkriegs gewesen sein, da führten sie einen Disput über Kriegsdienstverweigerung. Nach einiger Zeit wurde es Sally zu blöd, sie stand auf und ging. Da lief ihr der Großvater hinterher. Er war damals schon nicht mehr gut auf den Beinen, und weil Sally Mitleid mit ihm hatte, blieb sie stehen, drehte sich um, und er schmierte ihr eine. Damit war die heilige Ordnung ein letztes Mal verteidigt.
Sally dachte oft an diesen Moment, an den alten Mann und an das Bild von ihm, wie er mühsam versuchte, ihr hinterherzukommen. Es gehörte zu den schmerzlichsten Bildern, die sie von ihm hatte. Die sichtbare physische Erschöpfung nach dem Gespräch und das mühsame Stolpern, dieser Anblick hatte Sally trauriger gemacht als die Ohrfeige, die schon damals nicht mehr richtig angekommen war. Der Großvater hatte ihr Stehenbleiben zwar als Unterwerfungsgeste gedeutet, doch in Wahrheit war es das Gegenteil gewesen, das Ende der Angst. Sally hatte sich wortlos abgewandt und war mit
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