Alles über Sally
männlichen Tugenden hatten den Applaus nur im Erfolgsfall, im Falle des Misserfolgs blieb ihnen prinzipielles Ansehen verwehrt. Die weiblichen Tugenden hingegen besaßen einen Eigenwert unabhängig von Leistungsbilanzen – soziale Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit, das waren Qualitäten, so oder so. Die Buben, die durch ihren Übermut oder ihre Eigenbrötlerei auffielen, hatten sich derweil damit abzufinden, dass sie Mängelexemplare waren, das Ergebnis von Gottes erstem Versuch, leider missglückt, beim zweiten Versuch gings besser.
Im Sommer hatte Alfred zu Alice gesagt, er finde es bemerkenswert, wie schnell die Frauen diesen Paradigmenwechsel hinbekommen hätten. Bei einer Interessengemeinschaft, die so klug und geschickt sei, ein derart kompliziertes Projekt in so kurzer Zeit durchzudrücken, wundere man sich, dass nicht schon früher Fakten geschaffen wurden.
Sallys Schülerinnen ruhten sich auf den Lorbeeren ihrer Mütter und Großmütter aus. Oder anders ausgedrückt: Sie fielen ihnen in den Rücken. Das dachte Sally. Denn von feministischen Dingen wollten die Schülerinnen nichts hören, Frauenfragen, igitt, das betraf sie nicht, das wollten sie nicht an sich heranlassen, das war ihnen total unangenehm.Allein die Kategorie Frauenliteratur war abtörnend . Das hatte unter den Mädchen den gleichen schlechten Ruf wie Männerliteratur, irgendetwas Obszönes klebte daran. Die Mädchen wollten nicht wahrhaben, dass man an der Welt scheitern konnte, nur weil man eine Frau war. Sie vertraten die Meinung, jemand, der sich ausnutzen ließ, war selber schuld. Frauen wie in Jelineks Liebhaberinnen seien dumm oder allenfalls naiv, sie hätten halt etwas Gescheites lernen sollen, dann hätten sie ihr Leben besser im Griff. Sallys Schülerinnen verstanden nicht, dass es Zusammenhänge gab, in denen eine Entwicklung zum Besseren noch nicht gegriffen hatte. Sie sagten, früher mag das ein Problem gewesen sein, aber heute nicht mehr.
Für intelligente und entschlossene Frauen gab es in dem, was sie erreichen konnten, tatsächlich keine Grenzen mehr, im Einzelfall. Und dieser Einzelfall genügte den Schülerinnen für ihre Argumentation. Wenn ihre Mütter schlechter verdienten als ihre Väter, sollten sich die Mütter an der eigenen Nase nehmen. Sie selber würden sich das nicht gefallen lassen, sie gingen sofort zum Chef.
In einer achten Klasse behandelte Sally das Thema Heldentum. Ein Held unserer Zeit – was ist das? Die Schüler zeigten sich interessiert, im Ergebnis war der Subtext aber ähnlich wie bei der Frauen- und Männerfrage, erfolgsorientiert. Wenn du dich anstrengst, schaffst du es, dann bist du gut, andernfalls hast du dich zu wenig reingekniet, dann bist du selber schuld. Für Versagen hatten die Schüler kein Verständnis, Buben wie Mädchen, und es war immer persönliches Versagen, das angesprochen wurde, nie gesellschaftliches. Und auch Heldenhaftigkeitwurde individuell und nicht nach Kriterien des Gemeinwohls definiert.
Im Unterricht versuchte Sally selten, ihre eigenen Ansichten in den Mittelpunkt zu stellen. Meistens genügte es ihr, wenn unter den Schülerinnen und Schülern eine Diskussion entstand. Doch wenn sie einander nur gegenseitig bestätigten, griff Sally ein, dann redete sie streng, mit einer seltsam drängenden Leidenschaft, als wolle sie mit jeder Silbe sagen, seid nicht dumm, es gibt da etwas, das zu wissen sich lohnt.
»Ein Held meiner eigenen Jugend war jemand, der Ideale besessen und wenig materialistisch gedacht hat«, sagte sie. »Freiheit hat eine große Rolle gespielt. Aber immer verbunden mit sozialem Engagement. Hedonist ja, Libertin nein. Gerechtigkeit war heilig und weitgehend identisch mit Gleichberechtigung. Ein Held sollte das Leben genießen, aber beim Genießen die Möglichkeiten der anderen nicht beschneiden. Da war es im Zweifelsfall besser, wenn er selber das Nachsehen hatte.«
Die Jugendlichen spotteten, verstummten aber rasch, und Sally griff den Zwischenruf heraus, der ihr am gelegensten kam.
»Da steht man aber schnell als Trottel da«, sagte ein Schüler. »Die andern nutzen einen aus!«
Einige Mitschüler lachten. In die Wogen des Gelächters hinein erwiderte Sally:
»Früher nannte man so jemanden nicht Trottel, sondern Außenseiter.«
Sie räusperte sich, gegen Ende des Vormittags trocknete ihre Stimme immer aus.
»Und wo liegt der Unterschied?« fragte der Schüler. Er gehörte zu denen, die den Leistungs- und Anpassungsdruck besonders
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