Alles über Sally
sie berichtete, dass sie Erik vergeblich zu erreichen versucht habe, weil sie mit ihm über Alfred reden wolle; worin sogar ein Körnchen Wahrheit steckte.
»Sei so gut und richte Erik aus, er soll mich anrufen«, bat sie.
»Ich werde es ihm sagen.«
»Wo treibt er sich eigentlich herum?«
»Keine Ahnung«, antwortete Nadja gelangweilt. »Aber es wird sich bestimmt eine Gelegenheit finden, dass ich’s ihm ausrichte.«
»Danke, du bist ein Schatz.«
»Ja dann, ciao«, sagte Nadja.
Alles, was Sally tun konnte, war schmoren – und das tat sie auch. Entsprechend schwer fiel es ihr, ihre Unruhe unter Kontrolle zu halten, als Alfred in die Küche kam. Er fragte höflich, ob er störe. Sally sagte, das tue er nicht. Sie redeten über Gustav und über Gustavs schulische Leistungen. Sally war friedlich und hielt den Smalltalk eine Weile in Gang. Es ergaben sich keinerlei neue Erkenntnisse. Nachdem auch das Thema Alice auf Jobsuche abgehandelt wordenwar, meinte Alfred in Anlehnung an sein gerade geführtes Telefonat, Trippolt aus der Afrika-Abteilung werde immer mehr wie sein Vater. Sally erwiderte, Alice und sie hätten unlängst dieselbe Feststellung gemacht, aber in Bezug auf ihn, Alfred, er werde seinem seligen Vater auch immer ähnlicher.
»Meinem Vater?« fragte Alfred überrascht.
»Ja, natürlich«, stichelte Sally, »deinem Vater, wem sonst?«
»Ja, ja«, brummte Alfred und verzog sich in sein Arbeitszimmer, frischer Stoff zum Tagebuchschreiben – während Rom brennt, dachte Sally. Aber keine fünf Minuten später hörte sie, dass die Haustür klangvoll zuging. Offenbar wagte sich Alfred in die Welt hinaus.
Die Welt, die war tatsächlich so eine Sache. Hinter der Wohnzimmertür betete eine sonore Männerstimme die Nachrichten herunter. Unter anderem wurde berichtet, dass ein siebzehnjähriges Mädchen von seinem Vater monatelang eingesperrt worden war, weil er in ihrer Handtasche Kondome gefunden hatte.
Vor dem Hintergrund ihrer eigenen sexuellen Freimaurerei ging Sally dieses Mädchen lange nicht aus dem Kopf. Noch am nächsten Vormittag war sie im Unterricht minutenlang wie in Trance, so dass die Antworten der Schülerinnen und Schüler als Phantasiegeplapper bei ihr ankamen. Was für eine Pest grassierte in manchen Köpfen! Und ihr eigenes Leben blieb davon unberührt. Es durfte chaotisch verlaufen, es war biegsam, in vielen Aspekten revidierbar, und niemandem stand es zu, darüber Gericht zu halten. Sich aufspielende Männer gab es überall, aber hierzulandewaren sie in den vergangenen Jahrzehnten besser geworden, nicht alle, aber viele. Ein wenig jedenfalls. Eine Plage waren sie trotzdem. Das dachte Sally. Männer sind eine ziemliche Plage.
In der Schule verhielt es sich allerdings so, dass die Buben in Summe fast den besseren Eindruck machten: aufgestellter, moderner, stärker damit beschäftigt, darüber nachzudenken, wie sie es richtig machen konnten. Natürlich gab es auch unter den Mädchen solche, die überlegten, wohin es ging, aber diese Mädchen bildeten die Ausnahme. Die Mehrzahl von ihnen war sorglos und glaubte es schon richtig zu machen, gleichzeitig saßen sie in ihren Bänken wie die versammelten Weltwunder professioneller Weiblichkeit. Selbst zwischen der Generation von Sallys Töchtern und der ihrer jetzigen Schülerinnen schien es einen nochmaligen kulturellen Bruch zu geben. Was von der Wirtschaft vorgelebt wurde, ahmten sie unreflektiert nach – die komplette Sexualisierung der Oberfläche. Unterstützt von Chemie- und Textilindustrie, trieben sie mit ihren natürlichen Reizen ein Unwesen, das wahrhaft imposant war, mit nicht zu verachtenden Neben- und Sogwirkungen auf die Mädchen der unteren Jahrgänge. Dort kippten die nacheifernden Versuche endgültig ins Vulgäre, weil es dem Junggemüse an Augenmaß fehlte.
Die Buben waren Sally fremd, aber sie gefielen ihr. Egal, ob gut oder schlecht erzogen, sie konnten realistisch und charmant sein. Sally hatte keine Ahnung, wo sie das lernten. Die meisten von ihnen hatten eine gute Haltung, wenn man auch nie recht wusste, was sich hinter der elaborierten Fassade tat. Die allermeisten Buben gaben sich nicht preis –was wenig verwunderlich war, wenn man bedachte, dass es zunehmend schwierig wurde, in dieser Gesellschaft männlich zu sein.
Noch vor fünfzig Jahren waren die männlichen Tugenden die angesehenen Tugenden gewesen. Jetzt wurde den weiblichen Tugenden der Vorzug eingeräumt. Wer reden kann, kommt übers Meer. Die
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