Alles über Sally
heraus, dass seine Ehe mit Nadja von Anfang an unglücklich gewesen war, eine katastrophale Geschichte von Selbstüberforderung, Selbststilisierung und Wahnsinn. Das hätte Sally nicht gedacht. Erik fand, zwanzig Jahre seien ein ausreichender Preis dafür, dass er Nadja geschwängert habe. Sprüche wie ich springe aus dem Fenster, wolle er nie wieder hören, davon habe er genug. Vor allem aber sei er überzeugt, dass er jung sterben werde, wegen seines Vaters und dessen Geschichten mit Schlägen und Herzinfarkten. Er meinte, wenn ihm lediglich noch zehn Jahre blieben, wolle er diese Zeit genießen.
Sally beugte sich vor und küsste ihn auf den Mund. Wie vielfältig die Menschen sind, dachte sie, so viele Gesichter in einem jeden, wie scheue Hasen, die aus dem Kraut hervorlugen und dann zur Seite springen. Und die Angst, im nächsten Moment zur Strecke gebracht zu werden: eindeutig hasenhaft. Sally kannte niemanden, der diese Angst nicht hatte, selbst ihre Schülerinnen und Schüler hatten sie, nur dass es bei ihnen eine natürliche Angst war, keine panische, das war der Unterschied.
Sie gingen zurück aufs Zimmer. Die nächste Runde. Der Abend war noch absurder als die Treffen im Sommer. Sally fragte Erik, wie sie in seine Zukunftspläne passe. Er antwortete, sollte er Nadja verlassen und gemeinsam mitLena leben, dann wolle er Lena treu sein. Sollte hingegen Nadja seine Pläne durchkreuzen oder etwas anderes dazwischenkommen, dann würden sie sehen.
Nicht sehr berauschend. Sally musste sich mit einem Wir werden sehen abspeisen lassen und mit dem unwahrscheinlichen Fall, dass Erik bei Nadja blieb. Klar, wer weiß, dann würden sich alle Fragen anders stellen.
Sie erwähnte einen Besuch in London, den sie an Neujahr machen werde, sie beabsichtigte, ihre tattrige Mutter zu besuchen, ehe sie selber tattrig wurde. Ob sie einander in London treffen könnten. Wäre das was? Er sagte nicht nein, aber auch nicht ja, er ermunterte sie nicht.
Offenbar war er fest entschlossen, auf die russische Karte zu setzen, egal, wie, egal, wer verletzt wurde, Nadja und die Kinder. Das machte Sally ganz krank. Schließlich waren auch ihre eigenen Gefühle verwickelt. Und dass dies vermutlich das letzte Mal war, dass sie mit Erik Sex hatte – auch das. Sie fühlte sich gekränkt, sie sagte es, er meinte, er habe nichts anderes erwartet und wolle gar nicht versuchen, irgendetwas schönzureden. Es tue ihm leid, er sehe in Lena seine letzte Chance auf das große Glück. Mit diesen Worten stand er auf.
Die Donau führte jetzt deutlich mehr Wasser als im August. Der Anblick des Flusses im abendlichen Laternenschein überwältigte Sally, und sie dachte daran, dass sie sich beim letzten Mal, als sie hier gewesen waren, gefragt hatte, was man sehen würde, wenn man ihre Beziehung zu Erik von oben betrachten könnte. Bestimmt nichts so Geradliniges wie die regulierte Donau. Und jetzt? Jetzt dachte sie an den Niger, einen der längsten Flüsse Afrikas, dernach über viertausend Kilometern nicht weit von dort mündete, wo er entsprungen war.
»Wir hören ungefähr dort auf, wo wir begonnen haben«, sagte sie traurig.
Er ging nicht darauf ein. Sein Schweigen klang wie Zustimmung, ganz so, als würden damit die Ereignisse des Sommers ihrer Farben beraubt. Alle Rechnungen beglichen? Auf! Es ist Zeit! Zum Abschied!
Sie verließen das Hotel, Sally fuhr Erik zum Südbahnhof, wo er die Fahrkarte für Prag kaufte. Sally sagte, er müsse das Messer nicht auch noch umdrehen. Aber vermutlich war es für ihn ähnlich hart wie für sie. Haha! Jedenfalls tröstete sich Sally mit diesem Gedanken. Sie schmusten noch ein Weilchen in einer dunklen Ecke, ein letztes Mal. In sechzig Stunden saß er wieder im Zug, auf dem Weg zu der anderen Frau.
Bei der Schnellbahnstation trennten sie sich. Sie gaben einander keinen weiteren Kuss, standen nur stumm voreinander. Schließlich sagte Erik, wir reden noch. Sally sagte nein. Er stupfte sie ein paarmal mit dem Finger verlegen in den Bauch, Sally spürte, dass jetzt sie es war, die sich Mühe gab, nicht wie eine Verliererin dazustehen, eine abblühende Schönheit mit stolz erhobenem Kopf. Jetzt war sie an der Reihe.
Sie gaben einander die Hand.
9
Die dumme und langweilige Strumpfhosenanzieherei ging wieder los. Im Sommer war man mit drei Kleidungsstücken angezogen, im Winter reichten zehn nicht, immer war irgendwo etwas zu dünn oder zu kurz oder zu eng, dort verschaffte sich die Kälte Zutritt, über die
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