Alles über Sally
untersetzter Beamter eine Strichliste ab, mit argwöhnischer Genauigkeit musterte er Einzelheiten, ob alles seine Richtigkeit hatte. Zwischendurch rückte er eine Kranzschleife zurecht. Einige Kerzen brannten, sie kamen aber wenig zur Geltung, da die Fenster von einem weichen Tageslicht getroffen wurden. Der Geruch von verbrennendem Wachs war immerhin angenehm, er milderte die Ausdünstungen der Blumen, die in ihrer üppigen und fetten Süßlichkeit an ein Urinal erinnerten.
Die Trauergemeinde war überschaubar, Pomossels soziale Infrastruktur, drei kleine Gruppen, die streng gesondert blieben, so dass jeden, der kam, ein Gefühl der Ungebetenheit befiel. Zwei dieser Gruppen befanden sich in tuschelnder Halbtrauer, die Abgesandten der Schule und einige Männer unterschiedlicher Altersstufen, vermutlich Pomossels Schildkröten-Freunde. Nur die Angehörigen zeigten Anzeichen von Erschütterung, es schien, als schämten sie sich auch vor denen, die durch ihr Kommen eine gewisse Nachsicht ausdrückten. Ein solcher Todesfall, das war schlimm, schlimmer als weiß der Kuckuck. Die Eltern schienen inwendig ganz gebückt vor Scham, richtig gekrümmt vor lauter Bitte nicht! Pomossels Vater saß in bittergesichtiger Erstarrung, von plötzlichem Muskelreißen erschüttert. Die Mutter klammerte sich an den Henkel ihrer Handtasche, sie wirkte, als stünde sie unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln. Eine zweite Frau, deutlich jünger, saß lediglich auf der Stuhlkante, es war, als wollesie signalisieren, dass sie nicht beabsichtige, länger zu bleiben als unbedingt nötig.
Die Zeremonie begann – jetzt also – mit Life on Mars . Ob Pomossel sich das Lied gewünscht hatte? Dieses Mondkalb! Warum nicht? Man traute ihm zu, dass er zu den Menschen gehörte, die ihre Angelegenheiten vor dem Abgang regelten.
Das Lied verklang, der Pfarrer begann seine Rede, er war ein großer und wuchtiger Mann, der sich schwerfällig bewegte mit riesigen, sehnigen Händen wie aus einer Bauernlegende. Er hatte eine auffallend stumpfe Nase und einen böhmischen Akzent, der allem Gesagten etwas Irdisches verlieh. Er erwähnte diejenigen, die mühselig und beladen sind, und sagte, dass es nicht an uns sei zu richten und so weiter. Er konnte nicht gut nichts sagen, stimmt, eins war so gut wie das andere. Sally hörte ohnehin nur ganz am Anfang hin, dann fielen ihr die Augen zu. Sie konnte wieder die Blumen riechen, und eine Zeitlang dachte sie an gar nichts. Doch schließlich schaffte sie den Übergang – den Übergang vom Erhabenen zum Lächerlichen, vom Tod zum Leben, ihrem eigenen nämlich.
Seit dem Tag im Vienna Danube hatte sie Erik nicht mehr gesehen, ein Telefonat war die einzige Ausbeute beim wiederholten Versuch, nochmals mit ihm in Kontakt zu kommen; die Nerven waren ihr einige Male durchgegangen. Das Gespräch selbst verlief einsilbig. Erik konnte nicht frei reden, im Hintergrund hörte Sally Kinderstimmen, ihr blieb fast das Herz stehen, ja, krank, sie wusste, das war krank, aber sie hatte sich verliebt, das hörte nicht von einem Tag auf den andern auf. Umso härter traf es sie,dass Erik nach der mageren Kost nicht zurückrief. Sally hatte jetzt schon selber den Eindruck, dass er feige war. Offenbar hatten Alfred und Nadja einen wunden Punkt berührt. Umso schlimmer für Erik! Ich hätte ihn nicht für ein solches Arschloch gehalten, dachte sie, mir wäre nicht wohl in seiner Haut. Sie suchte nach weiteren objektiven Schwachpunkten, die sie darin bestärken sollten, froh zu sein, dass sie ihn los war. Auf allerlei Umwegen ging sie seine dunklen Seiten ab, landete am Ende aber immer wieder bei der ernüchternden Erkenntnis, dass sie sich wünschte, die Frau zu sein, derentwegen er Nadja verließ.
Wollte sie das wirklich? Sie hätte kotzen können. Will ich ihn überhaupt? Auf welcher Grundlage? Auf der, die er gerade präsentiert? Wohl eher nicht. Steht Erik für eine Intimität, die mir gefallen würde, während die Person nicht grad der Knaller ist? Steht er für den totalen Liebesrausch, der so bald nicht wiederkommen wird? Steht er für die angenehme Möglichkeit, dass zwei Menschen sich herumwälzen, wann immer sich ihre Wege kreuzen? Vielleicht. – Wenn man jung ist, sind diese Räusche anders, dachte Sally. Wenn man jung ist, besitzt man das intuitive Wissen, dass es in Zukunft noch andere solche Räusche geben wird. Aber jetzt, in Sallys Alter? Da waren sie spärlicher gesät. Wie oft konnte man da noch erwarten, sich zu
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