Alles über Sally
Zehen, den Hals oder den hinteren Hosenbund.
Zum Begräbnis von Pomossel ging Sally in einem knielangen Parka mit einer gefütterten Kapuze, die aussah, als hätte man dafür mehrere Teddybären geschlachtet, dazu dunkelblaue Jeans und schwarze Bergschuhe, für ein Begräbnis ein seltsamer Aufzug, seltsame Kombination, aber warm. Sally war gut eingepackt. Sie dachte, ich könnte als Touristin durchgehen, als Fremde, als Besucherin vom Mars. Der Gedanke mit dem Mars kam ihr, weil zu Beginn der Zeremonie Life on Mars gespielt wurde. Is there life on Mars? Natürlich nicht. Aber obwohl man annehmen durfte, dass die Mehrzahl der Anwesenden nicht gläubig war – ganz sicher wollte sich niemand sein, und jedenfalls hätte es sich jeder gewünscht, ja, hoffentlich, hoffentlich geht das Leben woanders weiter.
Anfang Oktober hatte sich das Gericht in Sachen Pomossel vertagt, damit psychologische Gutachten eingeholt werden konnten, die helfen würden, die Aussagen der Beteiligten auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Ein normaler Vorgang. Aber wie’s so kommt, oft sind es Kleinigkeiten,die einem zum Verhängnis werden. Nach Allerheiligen rekonstruierten Schüler von Pomossel auf seinem Computer im EDV-Raum eine Datei mit verfänglichem Bildmaterial, es hieß, nichts für schwache Nerven. Jetzt steckte Pomossel schon wieder in Erklärungsnot – und erklärte nichts. Die Schulleitung zählte auch ohne sein Mittun zwei und zwei zusammen, man kam zu dem Schluss, dass für einen Mann wie ihn im Schuldienst kein Platz sei, dafür brauchte man kein Attest. Noch ehe die Gerichtsverhandlung fortgesetzt werden konnte, akzeptierte Pomossel die Auflösung seines Dienstvertrags.
Was dann folgte, war wenige Tage später auch in der Zeitung zu lesen. Pomossel verkaufte seine Schildkröten und hängte sich auf.
Wer raten will, kann sich vorstellen, was an der Schule los war. Die Neuigkeit schlug ein wie der Tritt eines Pferdes. Aber die Reaktionen waren empörter Fassungslosigkeit deutlich näher als menschlicher Bestürzung. Klar, die Meinung war gegen ihn, und zu nachgereichtem Interesse, auf das jeder Mensch Anrecht hat, wenn es vorbei ist, brachte kaum jemand den Willen auf, da bildete auch Sally keine große Ausnahme. Sie hatte diesen ungeselligen Waldschrat gemocht, desto abgestoßener war sie jetzt und verwünschte ihn mit Flüchen. Zu seinem Begräbnis ging sie nur widerwillig, den Ausschlag gab, dass sie das Bedürfnis hatte, sich wieder einmal auszuheulen.
Wenn eine Liebschaft schiefläuft, endet bedauerlicherweise nicht auch das Versteckspiel, es feiert weitere Triumphe. Normalerweise rennt man zu einer Freundin, weint sich aus und lässt sich trösten. Aber in so einem Fall? Beginntdie schwierige Heimlichkeit des Trauerns. Die Trauer lässt sich ebenso wenig hinausschreien wie davor das Glück, nur dass das Glück weniger Rechtfertigung und keinen Ansprechpartner verlangt, bei dem man es abladen kann. Da ist das Unglück anspruchsvoller. Doch wen behelligen, wenn man den ganzen Unsinn nicht mehr in der Flasche halten kann? Den Erstbesten vollquatschen, der fragt, was mit einem sei? Das Ausplaudern von Intimitäten – man hütet sich zu wenig vor dem Ausplaudern von Intimitäten. Na – na? Was ist mit Sally los? Wohin des Weges, Sally? He, Sally, was zum Teufel ist mit dir los? – Mit mir? – Wusste sie es selber? Nein. – Also wand sie sich mit weiteren Lügen heraus und wartete ab, was sie in vier Wochen denken würde.
Bis es so weit war, eiterten Missmut und Zorn als schlechte Laune aus ihr heraus. Die Familienmitglieder bekamen es am heftigsten ab, die Kinder und Alfred. Sie gingen Sally aus dem Weg, verschon mich, lass deinen Grant an jemand anderem aus! Umso willkommener war das Begräbnis. So ein Begräbnis kann eine große Erleichterung sein, wenn man offiziell zum Weinen keine Veranlassung hat, aber dringend einmal müsste.
Ich muss mir ein Ventil schaffen, sagte Sally zu sich, als sie über den Kiesweg durch den Zentralfriedhof ging. Ich muss diesen Frust ein wenig abschütteln.
In Halle 3 machte sie auf der Suche nach dem richtigen Begräbnis zweimal die Runde, bis sie ein bekanntes Gesicht entdeckte. Als sie in die betreffende Koje schaute, erwiderte eine Lehrerkollegin ihren Blick. Sally lächelte, ihr Lächeln wurde aber nicht erwidert. Ein paar andere schautenebenfalls und sprachen dann weiter. Sally ging zwischen den Leuten hindurch und suchte sich einen Platz. Vorne beim Sarg hakte derweil ein
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