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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
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verschwinden könnten, hatte sich verzogen. Das Echo in der Luft, dieser Gebäude-Tinnitus, der an den Einbruch erinnerte, war verklungen. Die Hysterie im Haus hatte sich gelegt.
    Ohne einen besonderen Tonfall sagte Sally:
    »Ich kann meine vanillefarbene Unterhose nicht finden. Ich habe sie gewaschen und über den Heizkörper im Bad gelegt. Dort ist sie jetzt nicht mehr. Weißt du, wer sie weggenommen haben könnte?«
    »Keine Ahnung«, sagte Alfred.
    Nicht dass Sally etwas anderes erwartet hatte, ihr war klar, dass Alfred die Unterhose nicht weggenommen hatte,es geschah selten, dass er etwas wegräumte, was ihm nicht gehörte.
    »Emma habe ich schon gefragt«, sagte Sally. »Sie weiß ebenfalls von nichts.«
    »Die wird schon wiederauftauchen«, sagte Alfred.
    Jetzt befanden sich alle Tagebücher bis auf das aktuelle in der Truhe, eins auf dem andern, diese fortgesetzte, langwierige Erzählung davon, wo Alfred rühmlich und wo er glücklich, wo er kläglich und wo er unsäglich gewesen war. Bevor Alfred mit den Schallplatten fortfuhr, stand er für einige Momente in stummer Betrachtung und beobachtete, wie sich die Tagebücher in ihrem neuen Zuhause machten. Sie lagen zusammengedrängt wie Rehe im Winter, vielleicht bauschten sie sich ein wenig im kalten Lufthauch, der noch im Holz hing – als würden sie atmen.
    »Wer außer Emma fängt mit einem Damenslip etwas an?« fragte Sally kopfschüttelnd. »Kryptisch.«
    Sie räumte am Schreibtisch den Brieföffner und einige Stifte beiseite, dann legte sie ihr bleiches Gesicht seitlich auf die am Tisch verschränkten Arme. Sie hatte Alfred weiterhin im Auge und rührte sich eine Weile nicht. Alfred schaute sie an, dann blickte er im Zimmer von einem Gegenstand zum andern, man konnte sehen, dass er zufrieden war. Alles stand an seinem Platz und stärkte ihn. Er hatte lange dafür gebraucht, Monate, Jahre, Jahrzehnte!
    »Bist du glücklich?« fragte sie.
    In Portionen zu fünf oder zehn füllte er den freigebliebenen Platz in der Truhe mit Schallplatten.
    »Sehe ich so aus?« antwortete er erstaunt.
    »Das nicht gerade. Aber ein Unterschied ist schon zu beobachten.«
    »Ich glaube, ich habe es überstanden«, sagte er nachdenklich. Und er lächelte, aber nur ganz kurz, für sich.
    »Das ist ja beruhigend«, sagte sie.
    Das war alles, was sie fürs Erste redeten. Sally hatte den Kopf weiterhin auf den Armen liegen, sie dachte darüber nach, wie Alfred und sie sich verändert hatten, sich und einander, und wie verletzend es war, dass sie ein wenig einer des anderen Geschöpf waren und deshalb füreinander verantwortlich. Gleichzeitig war dieser Gedanke natürlich beruhigend. Genaugenommen behagte ihr die Idee eines Ehemannes und selbst die Idee, dass Alfred dieser Ehemann war – seit mehr als fünfundzwanzig Jahren. Sie mochte diese Idee. In der Praxis hielt sie sich Ehe und Ehemann vom Leib. Aber sie fand es gut, dass man sich im Gespräch auf einen Ehemann beziehen und im Alltag gelegentlich darauf zurückgreifen konnte.
    Nach einiger Zeit nahm Alfred das Gespräch wieder auf.
    »Du bist heute so zahm, Sally?«
    Für ihn war das eine ungewöhnliche Frage, zumal er nichts Besonderes auf dem Herzen zu haben schien.
    »Ich habe keine Kraft mehr zum Streiten«, sagte sie leise.
    »Soll ich die Rettung rufen?« fragte er. Es war nicht böser gemeint als nötig, also ließ Sally es auf sich sitzen.
    Alfred arbeitete weiter.
    »Ich habe gestern eine SMS von Nadja bekommen«,sagte er schließlich. »Sie will wissen, wie ich ihre Chancen einschätze.«
    Mit einem Anflug von Verwunderung sah Sally auf, sie sah nur Alfreds Rücken, er unterbrach seine Arbeit nicht.
    »Was hast du geantwortet?« fragte sie.
    »Bis jetzt habe ich noch gar nichts geantwortet.«
    »Das sieht dir ähnlich«, gab sie vorwurfsvoll zurück. »Du solltest sie nicht hängenlassen, es geht ihr nicht besonders gut.«
    Versonnen schaute er auf eine Platte von Blood, Sweat & Tears, dann legte er sie beiseite, als beabsichtige er, sie wieder einmal anzuhören.
    »Aber ich habe mit Erik telefoniert«, sagte er.
    Wieder sah Sally ihn mit Verwunderung an, mit einem staunenden und zugleich unschuldigen Blick. Sie sagte nichts, sie wusste, dass sie Alfred nicht dazu auffordern musste, ihr vom Verlauf des Gesprächs zu berichten. Sie hatte keine Lust mehr auf dieses demütigende Entlangbalancieren am Rand von Lügen.
    Offenbar legte es Erik auf die Scheidung an, sogar die Modalitäten hätten sich schon konkretisiert.

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