Alles über Sally
vermutlich war auch das Wir werden sehen-Projekt von Eriks Feigheit inspiriert. Oder von seiner Gelassenheit? Seiner Ehrlichkeit? Seiner Voraussicht? Womöglich fand die Russin plötzlich einen anderen, und die ganze Geschichte zerschlug sich. Nichts war ausgeschlossen. Es waren schon seltsamere Dinge passiert.
Am wahrscheinlichsten war, dass Sally nur als kurzes Interregnum in die Annalen einging, als Brücke, als Übergangsfigur, ich, Sally Fink, die Übergangsfigur.
Das dachte sie. Dann schlich sie an diesem Gedanken vorbei und sagte zu Alfred:
»Er behandelt Nadja wirklich sehr schäbig.«
Um nicht auch sich selber zu erwähnen.
»Und jetzt lässt er einen Anwalt aufmarschieren«, sagte Alfred, »der den Auftrag hat, eine Trennungsvereinbarung aufzusetzen. Die soll Nadja möglichst schnell unterschreiben, bevor sie endgültig überschnappt.«
Sally richtete sich auf und tauschte mit Alfred ein Stirnrunzeln.
»Hat er das gesagt?« fragte sie.
»Ziemlich wortwörtlich.«
»Und sonst?«
»Sonst hat er nur Blödsinn geredet«, sagte Alfred.
Es klang, als wolle er trotzdem etwas hinzufügen, aber dazu kam es nicht, weil sie keine Ruhe mehr hatten. Emma nutzte eine Lernpause, um die Truhe zu bewundern.
»Dann werde ich mich auf mein Kreuzworträtsel stürzen«, sagte Sally. Sie verräumte die leere Obstkiste unter die Treppe, wo Alfred im Sommer ausgemistet hatte, weil dort die Steuerkonsole der Alarmanlage hingekommen war. Anschließend ging sie aufs Klo. Als sie wieder herauskam, hörte sie für einige Sekunden in Alfreds Arbeitszimmer über sich reden.
»Sie ist im Moment nicht auszuhalten.«
»Macht nichts, das wird schon wieder«, antwortete Alfred, entspannt und klar. Unmittelbar darauf machte er die Tür zu, und obwohl Sally noch eine Weile im Flur stehen blieb und lauschte, war nichts mehr zu verstehen.
Der Nachmittag verlief ruhig. Sally versuchte, ihren Gedanken mit einem Spaziergang nachzuhelfen, aber ihreGeister blieben lahm. Es schneite noch immer, die Flocken wurden schwerer. Oder größer? Vermutlich größer. War das nicht ein Zeichen, dass es bald wieder aufhörte? Sie wusste es nicht mehr, es war ihr egal.
Als sie wieder nach Hause kam, war die Küche, die sie in schrecklicher Unordnung zurückgelassen hatte, aufgeräumt. Sie fragte sich, ob sie jetzt ein schlechtes Gewissen haben musste. Nein, bewahre! In den vergangenen Wochen war sie zwar keine Quelle der Zuverlässigkeit gewesen, trotzdem kam sie zu dem gerechtfertigten Schluss, dass es sich nicht nur um ihre Küche handelte, sondern um die der ganzen Familie. Es freute sie immerhin, dass die Ankunft des ersten Schnees und die Lieferung der Truhe Alfred zu Aktivitäten beflügelt hatte. Er rannte gerade die Stiegen rauf und runter auf der Suche nach seinem Schraubenzieherset.
»Mein Name ist Hase«, sagte Sally, als er sie darauf ansprach.
»Ich habe die Küche aufgeräumt«, stellte er beiläufig fest in der Hoffnung, Lob zu ergattern.
Sally überlegte, was sie darauf antworten sollte, und weil sie die kleine Reserve, die ihr bei Alfred geblieben war, nicht unnötig belasten wollte, sagte sie diplomatisch:
»Ich bedanke mich im Namen der ganzen Familie.«
Anschließend zog sie sich in ihr Zimmer zurück, sie fiel auf das ungemachte Bett und schlief ein, als hätte man ihr K.o.-Tropfen verabreicht. Als sie nach einer Stunde wieder aufwachte, fühlte sie sich besser. Sie blickte sich um. Das Dachfenster war schneebedeckt, man konnte nicht erkennen, ob weiterer Schnee dazukam, so dicht lag er schon aufdem Glas. Das kleine Zimmer war dadurch ganz abgeschlossen, eine kleine Insel im Universum: die weißgetünchte Wand mit dem Bild des Bettes von Ann Shakespeare, Dachschräge, Bücherregale, Ordner mit Unterrichtsbehelfen, die Schildkröten, die reglos unter der Wärmelampe lagen. Und mittendrin Sally, unendlich froh, dass sie dieses Zimmer hatte, so wie sie in der Schule als Zufluchtsort die Einzeltoilette neben dem Musiksaal hatte, die praktisch nur von ihr verwendet wurde. Auch dort empfand sie ein Gefühl von Privatheit. Und letztlich war es auch mit dem Wäscheraum in ihrer Kindheit so gewesen, an bestimmten Tagen hatte sie zuverlässig gewusst, dass sich außer ihr niemand dorthin verirren würde.
Von unten hörte sie weiterhin Alfred über die Stiegen poltern. In den Dachboden würde er nicht vordringen, zu sehr respektierte er diesen Bereich des Hauses als den Ort, an dem Sally ihren Wunsch nach Abgeschiedenheit
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