Alles über Sally
plötzlich. Sie blickte zum Himmel hoch, der sich grau über den Bäumen spannte, dem Tag ging sichtlich die Kraft aus.
»Bis Montag!« rief sie.
Sie drehte sich abrupt um. Mit schnellen Schritten ging sie hinunter zur Straßenbahnhaltestelle, dort warteten drei der Männer, die an Pomossels Begräbnis teilgenommen hatten. Sie schauten Sally nicht an. Und schon wieder (oderimmer noch) fühlte sie sich unbehaglich, und schon wieder (immer noch) hatte sie das Bedürfnis, jemanden um Verzeihung zu bitten, ja, Sally, Sally, du verrücktes Huhn, du bist ja auch schon ganz kaputt, es ist nicht zu fassen.
Der nächste Tag war ein Samstag. Sally wachte morgens auf, und die Dächer der Nachbarhäuser waren mit Schnee überzogen. Alfred wollte es zunächst nicht glauben, er behauptete, es sei einer von Sallys Tricks, um ihn aus dem Bett zu kriegen. Doch als sie die Vorhänge beiseitezog, fiel ein Licht herein, das sich so gleichmäßig und hell im Zimmer verteilte, dass auch Alfred die Veränderung zu den Vortagen anerkennen musste. Die Temperatur war weiter gefallen. Sally drehte die Heizung zum ersten Mal in diesem Winter ganz auf. Gott sei Dank hatte sie ihre Gartenpflanzen schon unter Dach und Fach. Alfred hingegen hatte noch welche draußen, um die er sich kümmern musste, sonst erfroren sie ihm.
Mitte des Vormittags wurden aus dem Westen die ersten tödlichen Unfälle und etliche Straßensperren gemeldet. Auch in Wien schneite es heftig. Trotzdem arbeitete Alfred auf der Terrasse. Vom Wohnzimmer aus, wo Sally Staub saugte, sah sie, dass er sich ziemlich plagte, als er den großen Topf mit dem Rhododendron zum Einwintern Richtung Kellerstiege schob. Die Sehnen traten ihm am Hals hervor. Dieser Anblick berührte Sally seltsam, ihr war klar, Alfred machte gerade eine harte Zeit durch, er atmete zu Hause ziemlich befremdliche Luft. Früher hätte sie ihm geholfen. Und doch, wenn man ihn so sah, in seiner alten Lieblingsjacke, deren Seitentaschen eingerissen waren,er bewegte sich nicht mehr wie ein zum Tode Verurteilter, er schien entschlossen, seine Arbeit zu einem raschen Ende zu bringen.
Sally fuhr mit dem Wagen zum Einkaufen, in den Geschäften herrschte ein Gedränge zum Verrücktwerden, Menschenmassen wie bei den Mongolenstürmen. Als sie zurückkam und die Taschen in die Küche schleppte, frühstückte dort eine in sich hineinglucksende Emma. Doch als Sally das Wort an sie richtete, verdrückte sie sich sofort nach oben. Grund: Sie müsse für eine musikwissenschaftliche Prüfung pauken.
Zu diesem Zeitpunkt erbrachte Gustav noch immer seine samstägliche Schlafleistung. Er tauchte erst kurz vor Mittag auf, geweckt von der Aufregung, die entstanden war, weil eine französische Spedition die Truhe lieferte, die Alfred nach langem Suchen im Internet ersteigert hatte. Ursprünglich aus Libyen, wurde sie von einem Auktionshaus in Paris überstellt, ein später Ersatz für das beim Einbruch zertrümmerte Zuhause von Alfreds Tagebüchern und Schallplatten.
Gustav half, die Truhe in Alfreds Arbeitszimmer zu tragen und in die Ecke hinter der Tür zu rücken. Er sagte, Alfred solle sie bloß nicht wieder absperren, niemand habe das geringste Interesse an dem, was er darin horte. Er sagte es sehr direkt, deutlich und klar, aber in einer sympathischen, wohltuenden Unbekümmertheit. Sally wunderte sich, woher er das hatte, sie dachte, dass sie sich freuen würde, wenn es von ihr käme. Aber war es wichtig? Machte es einen Unterschied? Allerhöchstens am Rande. Hauptsache, er besaß dieses Talent.
»Dir werden die Mädchen einmal scharenweise nachlaufen«, sagte sie. »Da bin ich mir sicher.«
»Das tun sie vermutlich jetzt schon«, sagte Alfred. »Drum ist er so vorlaut.«
Sally saß am Schreibtisch und schaute den Männern zu. Gustav ging wieder hinaus. Sally blieb sitzen, während Alfred die Tagebücher von der Obstkiste in die Truhe räumte.
Seit dem Einbruch waren mehr als vier Monate vergangen, und das Haus hatte längst wieder angefangen, neue Dinge in sich aufzunehmen. Und all die alten und vertrauten Dinge, die unversehrt geblieben waren, vermittelten nicht mehr die Gefahr, dass sie ebenfalls gestohlen oder zerstört werden könnten. Die unbewegten Gegenstände hatten dorthin zurückgefunden, wohin sie gehörten, in ein unbewegtes Dasein. Selbst Alfred bewegte sich im Haus wieder mit einem Gefühl der Sicherheit, die Angst, dass im nächsten Moment Dinge aus den Schränken oder Regalen fallen oder einfach
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