Alles über Sally
Ihm selber, Alfred, sei es ein Rätsel, dass sich die Leute ständig scheiden ließen, man müsse doch mit seiner Frau reden. Und wenn der Karren ärger in den Dreck gefahren sei, müsse man eben eine höhere Macht anrufen. Was für eine höhere Macht? Die Vernunft! Aber davon sei bei Erik nicht viel zu spüren.
»Kurzum«, resümierte er, »so wie Erik im Moment denkt und agiert, kann ihn niemand mehr kalkulieren. Erbehauptet zwar, dass ihm an Nadja nichts mehr liegt, aber das glaube ich ihm nicht.«
»Schreib ihr das«, sagte Sally müde. »Es wird ihr helfen.«
»Ich bin ebenfalls ein feiger Hund«, gab Alfred seufzend zurück. »Aber zum Glück anders feig als Erik.«
Er hielt eine LP von Jethro Tull ins Licht, dabei schüttelte er den Kopf, aber es war unmöglich zu erkennen, was die Ursache für das Kopfschütteln war, ein Gedanke über die Aulichs oder der am Cover abgebildete Ian Anderson. Oder Alfred selber?
Zwei- oder dreimal hatte auch Alfred eine Affäre gehabt. Sally wusste so làlà Bescheid. Aber was sie sehr gut wusste, war, dass er den Situationen kein einziges Mal gewachsen gewesen war. Die Welt des Seitensprungs gefiel Alfred nur in der Imagination. Dort war sie voller Poesie, ohne Uhren und Schlafdefizit, mit viel rotem Plüsch. Und Alkohol spielte dort auch keine Rolle. Wenn Alfred in der realen Welt des Seitensprungs landete, stellte sich heraus, dass sie den Gesetzen des Lebens unterstand wie alles. Mit allen Härten. Und dass er dort auf das traf, was er am wenigsten an sich mochte, erwies sich ebenfalls als hinderlich: seine Unentschlossenheit, Ängstlichkeit, seine mangelnde Rücksichtslosigkeit und sein Harmoniebedürfnis. Also nahm er immer rasch wieder Reißaus und rannte nach Hause zurück.
Einmal hatte Sally eine frühere Arbeitskollegin getroffen, die Kollegin hatte sich nach Alfred erkundigt, Sally hatte Auskunft gegeben und in diesem Zusammenhang gesagt, im Fall einer Trennung von Alfred würdesie unter anderem vermissen, dass sie bei ihm nie Angst haben musste, betrogen zu werden. Er sei weit davon entfernt, anderen Frauen hinterherzusteigen. Die frühere Kollegin hatte die Augen aufgerissen und gesagt: Vergiss es, Sally! Natürlich betrügt er dich! Er hat dich mit mir betrogen! – Dann hatte sie Sally die ganze Geschichte erzählt, keine sonderlich ruhmreiche Geschichte. Trotzdem war Sally im Nachhinein sehr verärgert gewesen, sehr eifersüchtig.
Im Arbeitszimmer herrschte wieder mustergültige Ordnung. Alfred bewunderte einige Sekunden lang den Inhalt der Truhe, dann klappte er den Deckel zu, schaute das neue Möbelstück an und setzte sich drauf.
»Erik hat kein Rückgrat bewiesen«, sagte er, indem er sich vorbeugte und die Arme auf die Knie stützte. »Und wenn das einmal passiert, wird es wieder passieren. Und das ist der Grund, warum er sich selbst disqualifiziert hat. Er ist dadurch in meiner Achtung gefallen. Ich an Nadjas Stelle würde ihn nicht zurücknehmen, obwohl sie ihn offenbar zurücknehmen würde.«
Ihre Blicke trafen sich, Sallys grüngraue und Alfreds braune Augen. Sally schien es, als habe Alfred Oberwasser bekommen, seit die Ehe der Aulichs in Schieflage geraten war. Seine eigene Ehe hielt noch immer, mehr oder weniger, das munterte ihn auf.
»Siehst du es nicht auch so?« fragte er.
Es war Sally nicht mehr unangenehm, Erik in dem neuen Licht zu betrachten. Ja, ich glaube, er ist der Bösewicht in dem Stück, das fühlt sich gut an, wenn ich es denke, also wird es schon wahr sein.
»Ja, ich glaube, Erik ist der Bösewicht in dem Stück«, sagte sie.
»Neben Nadja ist das keine geringe Leistung«, sagte Alfred.
»Ich hätte es ihm nicht zugetraut.«
»Ich auch nicht.«
Aber wer wusste schon, was sich in Eriks Kopf abspielte. Sally hatte ihm nichts Ernsthaftes vorzuwerfen. Im Vienna Danube, als sie darüber geredet hatten, ob sie bedauern sollten, was geschehen war, und er mit einem vehementen Natürlich nicht! geantwortet hatte, war später der Nachsatz gekommen, er bedauere, dass er nicht netter zu ihr gewesen sei. Aber was hieß das schon? Netter? Ein wenig netter konnte man immer sein. Oder wusste Erik mehr als sie? Abmachungen hatte er nicht gebrochen, es gab keinen Grund, sich betrogen zu fühlen, keine Versprechen oder nur temporäre, alles jederzeit widerrufbar, keine Bänder geknüpft, nur zarte. Und Erik ließ auch jetzt alles offen und ungelöst, mit einem dick unterstrichenen Vielleicht. Sally – ein Wir werden sehen-Projekt . Aber
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