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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
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Charakter in einer Seifenoper, der umgebracht worden ist und den Rest von einer Wolke aus beobachten muss, in fasziniertem Horror. Ich wünschte, es würde mich nicht kümmern, Erik, das Ende, Nadja, der ganze lächerliche Unsinn. Aber leider, es kümmert mich jede Menge. Ja, jede Menge!
    Und sie hörte sich sagen – hab ich das jetzt wirklich laut gesagt?
    »Er ist ein Arschloch.«
    Nadja schaute erstaunt. Gleich darauf hatte ihr Blick einen amüsierten Zug, kein Zweifel, es belustigte sie, was Sally gesagt hatte, aber sie nahm das Stichwort nicht auf.
    Kurz darauf trennten sie sich. Jede ging weiter, dorthin, wohin sie halt musste. Sally glaubte nicht, dass sie und Nadja nach diesen Ereignissen weiter befreundet sein würden. Finis , wie man eine Geschichte zu Ende erzählt, wie man es auf Grabsteine schreibt, der Auszählreim des Lebens, und raus bist du.
    Seit einigen Minuten beschäftigte sich der Pfarrer mit der Person des Toten, er tat es mit einer Brüderlichkeit, als ob er Pomossel von Kindesbeinen an gekannt habe. Vermutlich war ihm kurz vor der Zeremonie ein Zettel übergeben worden, an dem er sich orientieren konnte. Inhaltlich machte er seine Sache gut, nur verhedderte er sich ständig im Text, es war, als stolperte er eine Leiter hoch mit lauter sich drehenden Sprossen. Großstädtische Schwerstarbeit. Alle sechzig Minuten ein anderer Fremder, der zur sogenannten Ruhe gebettet werden musste.
    Endlich hatte es der Pfarrer geschafft, er zog sich zurück ins einschlägig Allgemeine, das ging wieder wie geschmiert, sotto voce, sein Wille geschehe, nur wie ein Hauch steht jeder Mensch da, dunkel ist die Nacht, erbarme dich unser, auf diesem Gestirn, dessen Gäste wir sind, ich bin die Auferstehung und das Leben. Eine zweite Musiknummer wurde eingespielt, eine schwermütige Nummer von Buena Vista Social Club. Jetzt spürte Sally erstmals,dass ihr die Tränen aufstiegen, sie quollen, wenn sie blinzelte, unter den Augenlidern hervor.
    Der Sarg wurde mit den wenigen Kränzen und Bouquets zu einem Wagen mit offener Ladefläche gebracht, der Wagen fuhr im Schritttempo zum ausgehobenen Grab, vorneweg ein Mann mit hochgehaltenem Kreuz, hinter dem Wagen die Angehörigen und der ganze Schweif. Sally stolperte den Kiesweg entlang, in der dünnen Wattierung konnte sie mit offenen Augen in die Sonne schauen, sie spürte, wie erregt sie war. Ihr Herz klopfte wie ein Uhrwerk.
    Die Arbeiter stellten den Sarg auf zwei Planken über die offene Grube, anschließend wurde neuerlich geredet und gebetet. Sally hatte das Gefühl, alles gehe wieder von vorne los. Das Vaterunser kam an die Reihe. Sally dachte an einen Satz aus einem Märchen von Hans Christian Andersen: Er wollte das Vaterunser beten, aber es fiel ihm nur das große Einmaleins ein. Pomossel hatte Mathematik unterrichtet, und unter diesem Gesichtspunkt war die Wirkung des Vaterunsers von einer so drängenden, so brutalen Schönheit, dass Sally in das Weinen derer, die schon begonnen hatten, einstimmte. Zuerst leise und unterdrückt, wie es sich gehört, nicht laut heraus, das kam erst später, als das Leise und Unterdrückte all die Gefühle, die nicht leise und unterdrückt sein wollten, freigesetzt hatte. Doch als es so weit war, schluchzte Sally heftig, und sie empfand dabei eine Erregung, wie sie normalerweise nur von verbotenen Dingen hervorgebracht wird. Sie hatte ein unangenehmes Gefühl dabei, es war, als wäre ein Damm gebrochen und sie würde auslaufen und müsste sich dafür entschuldigen.Egal, sie ließ es geschehen, was soll’s, das kann jedem passieren. Und der einzige männliche Kollege, der sich zum Begräbnis verirrt hatte, ein Religionslehrer, legte besänftigend den Arm um ihre Schultern, sie schluckte, grinste tapfer, besann sich und heulte weiter.
    Die Arbeiter kurbelten den Sarg nach unten, hinunter in das Loch. Schon seltsam. Jetzt kam das Werfen von Erde auf den Sarg, Sally riss sich zusammen, für das Erdewerfen brauchte es Konzentration und Technik, das war ihr in der Kindheit von ihrem Großvater beigebracht worden, die Wiener Wissenschaft am Grabesrand. In der linken Hand das Trinkgeld für die Totengräber, und während man mit der anderen Hand die Schaufel mit Erde entgegennahm, übergab man dem Totengräber die Münze, warf die Erde auf den Sarg, während der Totengräber das Geld einsteckte, die leere Schaufel gab man zurück in die wieder leeren Hände. So schnell ging das, im Handumdrehen. Grube ausheben, Grube zuschaufeln,

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