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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
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befriedigte. Sie fühlte sich hier wohl, es erleichterte sie, dass sie sich hier nicht mit anderen Menschen auseinandersetzen oder, schlimmer, mit ihnen vergleichen musste. Hier gelang es ihr sogar, sich eine halbe Stunde lang auf nüchternes Nachdenken einzulassen.
    Zunächst lief es darauf hinaus, dass es unmöglich war, von ihrem Standpunkt aus zu einer zentralen Wahrheit zu gelangen, dafür bewegte sie sich in allzu unübersichtlichem Gelände: Liebe, Neid, Eifersucht, Angst, Ungeduld, Lebensgier und die ganzen konventionellen Illusionen. Sie versank für einige Augenblicke in reumütige Gedanken, sie fühlte sich schuldig wegen der Art, wie sie mit Alfred umsprang. Er musste einem wirklich leidtun, sie war keinerücksichtsvolle Partnerin mehr für ihn, trotzdem versuchte er seit Wochen, die gespannte Lage zu entschärfen (ja? tat er das wirklich?). Und sie? Sie fand sein Verhalten abstoßend und wusste nicht, warum. Wie sich das anfühlte, wenn sie ein Gespräch führten, das nicht wie Armdrücken war, hatte sie bis zur Situation vorhin in Alfreds Arbeitszimmer fast schon vergessen gehabt. Sie dachte, hoffentlich trägt er mir die Spielchen, die ich mir in letzter Zeit erlaubt habe, nicht allzu sehr nach. Und natürlich hat er recht mit dem, was er vor einigen Tagen gesagt hat, dass ich mir nicht geben lasse, worum ich bitte. Ich hätte das Erbetene gerne woanders bekommen. Von Erik. Schon wieder der! Ja, es erinnert ein wenig an die Art, wie man nicht aufhören kann, an einer verkrusteten Wunde zu kratzen.
    Wenn Erik sich von Nadja scheiden ließ und in einen anderen Bezirk zog und die Russin heiratete oder mit ihr lebte, bedeutete das auch das Ende aller Beziehungen zu Sally. Das dachte sie. Tja. Und dieses Szenario war ziemlich realistisch, warum sollte Erik eine alte Schachtel herumschleifen, wenn er auch eine Junge haben konnte.
    Bin ich eine alte Schachtel? Wenn ich mich von außen betrachte? Sie fragte sich: Wie wirke ich dann? – Oft fühlte sie sich jünger, als sie war, und sie verspürte immer ein wenig die Angst, dass es dafür nur einen einzigen Grund gab, nämlich den, dass sie ihr wahres Alter nicht akzeptierte. Aber sie glaubte, sie akzeptierte ihr Alter sehr wohl, sie wusste genau, ich bin so und so alt, keinen Tag jünger, und meistens ist es eh später, als man denkt. Aber eine gewisse Mentalität akzeptierte sie nicht, und diese Mentalität fand sie oft bei Bekannten in ihrem Alter, die ihren Wein ausmundgeblasenen Gläsern tranken. Dort überkam Sally ein drückendes Unbehagen, deplatziert zu sein, weil diese Menschen lebten, wie Sally als junge Frau auf keinen Fall hatte leben wollen. Mit jüngeren Menschen fühlte sie sich wohler, die waren anders, die lagen ihr mehr. Hoffentlich war das keine Projektion. Hoffentlich bastelte sie sich nichts zurecht. Vermutlich gab es auch in ihrem Alter genug Menschen mit einer Mentalität, die ihr gefallen würde, nur zufällig nicht in ihrem Umfeld.
    Früher einmal hatten die Leute sie angeschaut, weil sie ein hübsches Mädchen gewesen war. Warum sie es jetzt taten, wenn sie es überhaupt taten, war unklar. Sally wusste nicht mehr, was die anderen in ihr sahen. In der vergangenen Woche war sie mit Emma nach Hause gegangen. Emma wie immer ganz ihr selbstvergessenes, hübsches Selbst. Am Aumannplatz war ihnen ein Mann in Sallys Alter entgegengekommen, und er hatte ausschließlich auf Emma geschaut.
    Sally und Emma sahen einander ähnlich, aber Sally war nur mehr eine etwas fade gewordene ältere Version der jungen. Sally erinnerte sich an das Konzert in Wiener Neustadt – in geliehenen Kleidern, wie so oft. Wie alt war sie damals? Achtzehn. Der Kartenabreißer beim Gatter hatte die Mädchen, mit denen Sally unterwegs war, mit einem »Hallo« begrüßt. Als Sally an die Reihe gekommen war, hatte er gesagt:
    »Ah, hallo, Prinzessin!«
    Der ganze Ton seiner Stimme hatte sich verändert. Nicht anders als mit Emma und Alice jetzt. Und obwohl man Sally dank gesundem Leben, Kosmetik, zahntechnischemFortschritt und Charakter weiterhin nicht als hässlich oder uninteressant bezeichnen konnte, war sie doch nicht mehr jung genug, um aufzufallen. Jugend war so kraftvoll und anziehend. Und es gab bei Sally eine Furcht, nicht mehr dazuzugehören, nicht mehr mithalten zu können. Das war eine Sache, die sie oft beschäftigte.
    Irgendwann werde ich lernen müssen, nicht mehr sichtbar zu sein. Das dachte sie. Und sie dachte: Leider hat dieser Prozess schon begonnen.

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