Alles über Sally
Manchmal wird mir unheimlich, wenn ich merke, dass ich keine herausgehobene Stellung mehr einnehme. Ich brauche freundliche Berührungen, einen kurz an mir hängenbleibenden Blick. Oder ein Lächeln, das mich davon überzeugt, dass ich einzigartig bin. Am deutlichsten wird das, wenn ich in der U-Bahn sitze, dort fühle ich mich besonders verwechselbar, dort bin ich eine dieser Frauen in mittlerem Alter, die sich nicht aufgeben wollen, aber doch schon deutliche Einbußen erlitten haben, verwechselbar eben, in den Augen der anderen.
Sie war jetzt zweiundfünfzig, nicht schön, aber auch nicht unattraktiv, ganz normal hübsch, eher sogar ziemlich hübsch. Sie hatte es ganz gut getroffen, sie war noch immer mit einem hohen Maß an erotischer Wahlfreiheit ausgestattet. Aber mit zunehmendem Alter und abnehmender Wahrscheinlichkeit? Wenn solche Ereignisse wie die Affäre mit Erik ihrer Reichweite entrückten? Wenn der Traum von all den Männern, die noch auf sie warteten, fadenscheinig wurde? Was dann? Gab es für das, was dann kam, eine Chance auf Heilung? Wuchs man aus dem Bedürfnis, seinen Wert auf diese Weise zu überprüfen, heraus? Schön wär’s, dachte sie. Denn es war ja genaugenommen einzwanghafter, reaktionärer Aspekt in ihrer Persönlichkeit, angetrieben von – – von – – von – – Perfektionismus?
Das Handy klingelte, Sally angelte danach, es war Alice, die aus London anrief. Sally rief zurück, damit Alice Gebühren sparen konnte. Sally freute sich, von Alice zu hören, sie brauchte jetzt Beziehungen, um all das zu übertünchen, was unangenehm war.
»Ich habe Oma besucht«, sagte Alice fröhlich.
»Und, wie war’s?«
»Ich bin positiv überrascht«, verkündete Alice. »Das Saint Mary’s ist schön, ich habe es mir trister vorgestellt. Die rosaroten Tapeten, die blauen Schmuckleisten – und die Leute – total freundlich. Ich habe Oma mit Umarmung und Küsschen begrüßen wollen, aber das hat sie total verwirrt. Sie hat sich mit einem Scherz aus der Affäre gezogen und dem Pfleger zu seiner hübschen Freundin gratuliert. Am Ende waren alle verlegen, und Oma hat ein kleines Liedchen angestimmt.«
»Also alles wie gehabt.«
Mama, wie heiße ich? – Liebe Freundin. – Mama, ich heiße doch nicht liebe Freundin, sondern Sally! Den Namen hast du mir gegeben, das vergisst du immer! – Du, das habe ich tatsächlich vergessen, ich glaube, das werde ich nicht mehr lernen.
Alice lachte auf.
»Mama, einmal hat sie Fuck you zu mir gesagt, als etwas nicht so war, wie sie es sich vorgestellt hat.«
»Das ist allerdings neu.«
»Ich habe dann auch gemeint, hör mal, Oma, das warjetzt nicht gerade das, was man ladylike nennt. Sie hat dann zuerst so getan, als habe man die Falsche angesprochen. Aber als ich nachgehakt habe, hat sie gedroht, ich solle aufpassen, sie könne noch ganz anders.«
Alice lachte wieder.
»Das hat mir noch gefehlt, eine Mutter, die –«
»Ich fand es total cool. Sie war so entspannt.«
»Darin ist sie ihrer Tochter eindeutig voraus. Gar so entspannt bin ich nicht. Und wie läuft’s bei dir?«
Alice biss nicht an, sie war hellwach, gut gelaunt und eloquent, aber leider nur dort, wo es sie nichts kostete.
»Mit Oma ist schwer zu konkurrieren. Sie verdreht die Wirklichkeit, wie es ihr passt. Als ich versucht habe ihr zu erklären, wer ich bin, hat sie behauptet, dich großgezogen zu haben.«
Gut, das wiederholte sich also. Bei Alfreds und Sallys Besuch im Sommer war ebenfalls die Geschichte von einer Tochter aufgekommen, die Risa großgezogen habe. Wie soll denn diese Tochter geheißen haben, Mama? Sally vielleicht? Ja, Sally. Moment, halt, also wirklich, Mama, vielleicht würdest du dir wünschen, mich großgezogen zu haben, aber Ende der fünfziger Jahre war dir das offenbar nicht möglich.
Risa hatte mit Empörung reagiert und sogleich jede Menge Details aufgebracht, lauter Dinge, die niemals gewesen sein konnten, allerhöchstens mit den Kindern ihrer Arbeitgeber.
»So kommt auch deine Großmutter mit ihrer Biographie ins Reine«, sagte Sally großzügig.
Im Sommer hatte Risa im Anschluss an das Gesprächüber das Großziehen von Sally signalisiert, dass Besucher jetzt nicht mehr erwünscht seien, sie wolle sich hinlegen und an Sally denken.
»Aber ich bin doch hier, Mama. Ich bin Sally!«
Risa hatte nur wiederholt, sie wolle sich hinlegen und an Sally denken.
»Ich bin hier, Mama! Ich bin Sally! Ich! Deine Tochter! Sally!«
Aber da war nichts zu machen.
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