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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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genau auseinander. Worum ging’s? Einen flüchtenden, gehetzten Menschen, einen Verfolgten, unstet, von einem Versteck ins andere zu vermitteln, darum ging es. Einen gänzlich unbekannten Menschen männlichen Geschlechts also aufnehmen, dessen Schicksal einen im Grunde genommen nichts anging. Weiß der Himmel, was man dem angehängt hatte!
    Nur für eine einzige Nacht einen Menschen beherbergen, der sich in keinem Gasthof sehen lassen konnte. Für eine Nacht, also eigentlich ja nur für Stunden, darum ging es. Und zwar in dieser Nacht.
    Pastor Brahms wußte nicht, ob es sich um einen vom 20. Julihandelte oder einen Deserteur? Oder vielleicht sogar um einen Kommunisten, der früher einmal der besitzenden Klasse die Fenster eingeworfen und den Heiland einen «Himmelskomiker» genannt hatte? Rotfront!? – Oder einen Juden? Das ganze Land war überzogen von flüchtenden Existenzen, durch die Städte durch die Wälder hetzten sie, in alten Fabriken und in Lauben hielten sie sich auf, kauerten in Kellern oder auf Dachböden?
    Seine Gewährsleute hatten zu ihm gesagt: «Um Gottes willen, helfen Sie.» Das war alles, mehr wußte auch er nicht. Auch er würde den Fremdling in der Nacht zum ersten Mal sehen. Und am nächsten Morgen schon wieder woanders hinschicken.
    Aber nichts würde sein wie zuvor!
     
    Eine gewisse Kaltschnäuzigkeit war an dem Pastor zu bemerken, mag sein, wie’s will ... Katharina legte ihm eine kleine Wurst hin, von der schnitt er sich mit dem Taschenmesser sofort ein Stück ab und schob es wie Kautabak hinter die Kiemen. Sie saßen in der finsteren Studierstube, die Wanduhr: Blong! und auf dem Schreibtisch ein Kommentar zur Offenbarung des Johannes: Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Einen endzeitlichen Zyklus bereitete Pastor Brahms für die Alten im Kloster vor, jeden Abend nahm er sich ein anderes apokalyptisches Kapitel vor. «Und der Himmel wird aufreißen wie ein Buch ... » Die Alten, die Kranken dort! Von sonstwoher zusammengekarrt, aus dem Osten! Kaum der deutschen Sprache mächtig, und nun im kalten Kloster, einer neben dem andern, und hatten doch auch bessere Tage gesehen? Im Refektorium lagen sie, von einem überaus zarten Gewölbe überwölbt, an dem blau-goldene Sterne klebten.
    Über das Jüngste Gericht, das aufgerichtet werde, wenn alles vorbei ist, predigte er den Alten Tag für Tag, zur Rechten und zur Linken Gottes, und daß sich erst dann zeigen würde, wer zu leicht befunden werde und wer bestehen kann. Daß so mancher ausgespien werden würde in den feurigen Pfuhl!
    Zu Katharina sagte er, als er sie zittern und zagen sah: «Es muß sein. Und zwar heute.»
     
    Was das denn für ein Mensch sei? fragte sie, und ob das nicht gefährlich ist, gibt es da nicht irgendwelche Gesetze? Und ihr Mann, was der wohl dazu sagt, wenn er das erfährt, daß sie einem Menschen, einem Manne Unterschlupf gewährt? In ihrem Zimmer. Der sei immerhin Offizier? – Und: heute schon?
     
    «Hören Sie», sagte der Pastor: «Es muß sein.»
     
    Nachdem sie alles vorgebracht hatte, was sie bewegte, sagte sie plötzlich: «Ja». ES sagte «ja» aus ihr heraus, sie will es tun, den Mann aufnehmen, in Gottes Namen, und sie wurde für Sekunden ein anderer Mensch. Vielleicht sagte sie auch nur «ja», um endlich herauszukommen aus diesem dunklen Zimmer, mit dem Pastor vor sich, der da ihre Wurst kaute?
     
    Er zog den Vorhang vor dem verdunkelten Fenster zurück und lugte, das Taschenmesser in der Hand, durch eine Ritze in den Hof. Den Zeigefinger legte er auf die Lippen: Ein Besuch der Frau von Globig, die sich sonst nie hier sehen ließ, am späten Abend? Was würde die Nachbarschaft davon halten? Lagen diese Leute nicht ohnehin schon auf der Lauer? – Brahms hatte es durchaus schon erlebt, daß jemand im Hof neben der Regentonne hockte, um zu erlauschen, was er mit seinen Gemeindemitgliedern zu besprechen hat. Aber bei fünfzehn Grad Kältesich in den Hof zu hocken, das würde zu dieser Stunde wohl niemandem einfallen.
     
    «Also gut.» – Das Taschentuch zog der Pastor hervor und schneuzte sich laut. So gehörte nun auch diese Frau zu der Stafette, mittels derer ein Menschenleben gerettet werden sollte. Von Hand zu Hand werde dieses Leben gereicht. Und zwar noch in dieser Nacht.
    Wie Menschen über sich hinauswachsen! Darüber würde er eines Tages predigen. Noch nicht – aber es käme schon die Stunde, und sie käme bald!, in der er das verkünden könnte. Sich aus der Angst um das

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