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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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wieder anfinden ... Sie nahm Eberhards Briefe heraus und ordnete sie der Reihe nach. Sie las sie nicht, sie kannte ja jede Zeile, ihr Blick glitt darüber hin, aber einzelne Worte sprangen doch heraus. Und ihr gemeinsames Leben glitt geschwind an ihr vorüber. Die frühen Jahre, und wie er ihr das Leben auf dem Lande schmackhaft gemacht hatte? «Du sollst mal sehen ... ! », so in diesem Stil. Wie sich seine Schrift verändert hatte in den wenigen Jahren. Das Kindliche war in die Männerhandschrift eingegangen.
    Sie erinnerte sich an seine Angewohnheit, die Briefe nach dem Schreiben immer noch ein letztes Mal durchzulesen und flüchtig geschriebene Buchstaben zu ergänzen. Hier ein i-Punkt, dort eine Schleife unter das G, und dabei den kleinen Finger abspreizend? Als ob er es gutheißen müßte, was er da geschrieben hat? Und «siehe», es war alles gut?
    Nichts war gut. Die englischen Stahlaktien, die rumänische Reismehlfabrik – alles Geld futsch. Und das Land auch. Und in dem «Wanderer» würde jetzt ein General herumkutschiert werden, von hier nach da.
    O du lieber Augustin, alles ist hin?
    Aber irgendwie auch Gott sei Dank! Wie hätte denn jetzt der große Betrieb regiert werden sollen – sie hatte doch keine Ahnung?
     
    Sie horchte, ob sich oben irgendwas muckst. Daß der Fremde in völliger Verkennung der Lage vielleicht die Tür öffnet und oben auf der Treppe erscheint!? Auch er hatte nicht an die Fußspuren gedacht.
    Also noch vorsichtiger sein.
    «Mir lief es siedend heiß über den Rücken», so würde sie später davon erzählen. «Der Mann hatte nicht einmal die Spuren beseitigt!»
    Später, wenn alles vorbei war.
     
    Unter den Briefen fand sie Postkarten aus Berlin, Olympiade 1936, Eberhard war allein gefahren, «wegen der Pferde ... ». Und sie hatte mit Lothar Sarkander die Tour an die See gewagt. Hotel «Isabelle». Lange waren sie an der See auf und ab gegangen, er hatte ihre Hand gefaßt, was er nicht sollte, und es war spät geworden.
    Sie legte die Postkarten zu den Briefen. «Schade, daß Du nicht dabeisein kannst!» hatte Eberhard aus Berlin geschrieben. Sollte sie in dieser Stunde an ihn schreiben? Alles schön und gut? Hier ist alles schön und gut? Stell dir mal vor, der Pfau ist tot? – Oder sollte sie Sarkander anrufen? Ihn an den einen schönen Tag erinnern? Er war so ganz anders gewesen als Eberhard.
    Nein, es war wie eine Abmachung zwischen ihnen, der Tag wurde nicht erwähnt.
     
    Das Tantchen kam mit einem Bündel Pfauenfedern wieder herein. Sie steckte sie hinter die Ahnenporträts. Ist es besser so? oder so?
    Sie bot auch Katharina eine an, für ihre Wohnung oben. «Dies ist die schönste, soll ich sie dir hinauftragen?»
    Und wieder rief Katharina lauter als nötig: «Nein!»
    Brachten Pfauenfedern nicht Unglück? – Sie mußte an den alten Globig denken, der sich immer so eigen gehabt hatte mit dem Tier, und daran, wie Eberhard sie frischgebacken ihm zuführte, «dies ist meine Frau», und der sie dann abends immerauf besondere Weise umarmt, und später, als er schon lag, nach ihr gegriffen ...
     
    Katharina bündelte die Briefe und tat sie in die Schatulle. Sie stellte sich zu den Mädchen in die Küche und sah ihnen zu, und die waren ganz verdutzt, das kannten sie nicht, daß Katharina sich zu ihnen stellt und ihnen zuguckt. Sonja rührte in der Suppe, und Vera bügelte die Wäsche.
    Drei Teelöffel futsch? Sollte man eine Untersuchung anstellen? Das Kütnerhaus durchwühlen? – Es war ja sowieso alles ganz egal?
    Sollte man die Polizei rufen?
    Den Mädchen war es unbequem, daß Katharina bei ihnen stand, und sie suchten sie abzudrängen.
    Und Katharina wußte ja auch gar nicht, was sie in der Küche eigentlich wollte.
     
    Sie dachte an den Mann da oben.
    «Ich werde die Zähne zusammenbeißen», dachte Katharina. Es ging ja nur um diesen einzigen Tag. In der Nacht noch würde er wieder nach Mitkau gehen und von Pastor Brahms weitergeleitet werden. Den Tag und eine halbe Nacht galt es zu überbrücken.
    «Das Schlimme war», so würde sie später zu Felicitas sagen, «daß ich niemanden auf der Welt einweihen konnte. Niemand durfte es wissen.» Was Onkel Josef wohl für Augen machen würde? Und die Kusine in Berlin?
    Die ganze Sache war ja eigentlich ein dolles Ding.
     
    Nun fingen die Ukrainerinnen an zu singen mit ihren schrillen Stimmen. Weiß der Himmel, was das für Lieder waren. Vielleicht Aufrufe zum Freiheitskampf? Nein, sie sangen:
     
    Isch waiß nisch was

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