Alles Umsonst
genommen. Drei Jahre in verschiedenen Verstecken gelebt, und so weiter und so weiter, manchmal Wochen, manchmal auch nur Tage. Dachböden, Keller. Auch tagelang zu Fuß unterwegs, von einem Stadtteil in den anderen gewandert. Im Kino gesessen. Davon erzählte er immer wieder, und wie unterschiedlich es ihm ergangen war, das hatte er sich genau gemerkt. Hartherzige, unbarmherzige Menschheit ...
Seine Frau! Seine Kinder!
Ja, aber es gab doch auch Menschen, die dir geholfen haben, alter Freund, dachte Katharina, und sie lauschte zwischendurch – psst! –, ob über ihnen sich das Tantchen auf dem Dachboden zu schaffen machte?
Seine Frau. «Warum habe ich mich nur mit einem Juden eingelassen?» hatte sie gesagt. Die schönen Jahre vergessen und nur noch geklagt und nur noch geschimpft! Sogar vom Führer geredet! Und dann hatte sie ihn verlassen, war fortgegangen, mitden Kindern. Und alles mitgenommen. «Dir ziehe ich das Bettlaken unter dem Hintern weg! » hatte sie gesagt. «Warum habe ich mich nur mit einem Juden eingelassen?» Und wenn er die Kinder streicheln wollte, losgeschrien: «Faß nicht die Kinder an! » Die ja nun Halbjuden. Auch nicht so einfach.
Todtraurig seien sie gewesen, daß sie nicht in die Hitlerjugend eintreten durften.
Während Katharina noch immer überlegte, wie ihr das hatte passieren können, daß sie die Tür nicht abgeschlossen hatte, sagte er wieder und wieder, er habe kein Auge zugetan, die ganze Nacht. Die Mäuse machten ihn nervös, sie huschten hin und her, piepsten, kratzten, er habe sich gar nicht getraut, zu gähnen, aus Furcht, daß sie ihm in den Mund hineinkröchen. Es gab eine Stelle im Dach, durch die eisiger Wind pfiff. Und die Ritze befand sich direkt über seinem Kopf! Katharina reichte ihm etwas Strickwolle, damit er es schließen könnte, aber: «Wie soll ich das machen» – ungeschickt stellte er sich an. Folianten aus dem sechzehnten Jahrhundert konnte er flicken, aber eine Ritze im Dach? Ein Loch? Katharina kroch selbst hinein in die Höhle und verstopfte das Loch. Hätte nicht viel gefehlt, und er wäre ihr gefolgt.
Als sie wieder hervorkroch auf allen vieren, da mußten sie beide lachen. Das kam ihnen denn doch komisch vor.
Und dann erzählte er weiter von Kellerverschlägen, Dachböden und von seiner Frau.
«Ich bin ja selber schuld. Mein Vater hat mich noch gewarnt: Laß dich nicht mit einer Schickse ein! »
Irgendwann hob er den Kopf und sah Katharina voll an. «Wann kommen endlich die Russen? Wie lange mag es noch dauern?»
Was hielt die Rote Armee davon ab, endlich loszuschlagen? Und sie beugten sich über eine Landkarte: Keine hundert Kilometer entfernt saß sie, zum Sprung bereit, die Rote Armee.
Sollte er sie erwarten oder ihnen entgegengehen? das war die Frage. Aber bei dieser Kälte?
«Wär ich bloß in Berlin geblieben ...»
Den Russen entgegengehen? Die Hände heben und «Ich bin Jude!» sagen. Aber vielleicht machten die dann kurzen Prozeß, sagten: «Spion!» und legen ihn um? Oder: «Jude? Na, und? Das kann ja jeder sagen? Juden haben wir bei uns genug.»
Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, erzählte Katharina von ihren Reisen, vom Gardasee – und von Italien.
Auch er war schon mal in Italien gewesen, und zwar in Venedig. Wie sonderbar! Eberhard und Katharina doch auch! Daß Goebbels aus dem Markusdom herausgekommen war, ganz in Weiß, hatten sie beobachtet, und der Fremdling ebenfalls. Sie mußten also direkt nebeneinander gestanden haben!
Warum war er nicht in Italien geblieben? das fragte er sich, und er schlug sich gegen den Kopf. Und Katharina dachte auch: Warum sind wir nicht draußen geblieben, den englischen Stahlaktien nachgezogen, oder nach Rumänien, als es noch Zeit war? – Aber gut, denn die Reismehlfabrik war eine Fehlsache gewesen, durch und durch, man hörte und sah nichts. Da hätte man dann in Rumänien herumgesessen.
Dann mußten sie still sein, denn auf dem Hof hörten sie Wladimir mit den Mädchen sprechen. Sie holten Holz und lachten dabei. Und dann flüsterten sie miteinander. Guckten sie hinauf zu Katharinas Fenster? Auch die Ukrainerinnen amüsierten sich gewiß darüber, daß Drygalski neuerdings an der Saaltür horche, wie das Tantchen es ihnen erzählt hatte.
Und auch sie sprachen vermutlich darüber, ob sie hier warten sollten oder ob es besser sei, der Roten Armee entgegenzugehen.
Als es da draußen endlich still wurde, sagte der Mann: «Hätt’ ich doch ...
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