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Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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wurde ihr Gesicht so sanft, daß sie ganz wie das fügsame Weibchen aussah, das man sich als Geliebte wünscht – und hübsch dazu. Ja, sie war keine schöne Frau, aber in diesen Momenten war sie hübsch. Und in späteren Jahren war es mir manches Mal eine Qual, von den tiefen Gedanken ausgeschlossen zu sein, die dieses zarte Lächeln hervorriefen.
    Meine Finger rutschten am Tassenhenkel ab, so daß Tasse und Untertasse klirrend aufeinanderstießen und mir nichts andres übrigblieb, als den Kopf wie ein ungehobelter Klotz zu meinem Tee hinunterzusenken. Das brachte mich so sehr aus der Fassung, daß ich die Tasse absetzen und die zitternden Hände im Schoß falten mußte. Ich schlug die Beine übereinander und bemerkte, daß mein Fuß zuckte.
    »Und wie geht es dem kleinen Mädchen?« fragte ich. »Hat sie sich von dem Schrecken erholt?«
    »Ich habe den Verdacht, daß sie, wenn es nicht so kalt gewesen wäre, die Sache unheimlich spannend gefunden hätte«, sagte Etna. »Sie konnte heute morgen kaum von etwas anderem sprechen.«
    Ich beobachtete, wie Etna ihre Tasse zum Mund führte, und diese langgliedrigen Finger zitterten nicht.
    »Professor Van Tassel unterrichtet Englische Literatur und Rhetorik am College«, bemerkte Bliss.
    »Eine angenehme Tätigkeit«, fügte ich hinzu und lächelte ihr zu. Sie erwiderte das Lächeln nicht, aber sie sah auch nicht weg. Ich denke, sie nahm sich diesen Moment, um mich kurz zu mustern. »Halten Sie sich zu einem längeren Besuch in Thrupp auf?« fragte ich, unfähig, meine Neugier länger zu zügeln.
    »Ja«, antwortete sie. »Schmeckt Ihnen der Tee nicht?«
    »Doch, sehr«, erwiderte ich und hob die Untertasse mit der Tasse, um noch einen Versuch zu machen.
    »Meine Nichte«, warf Bliss ein, »bleibt bei uns, bis sie sich etwas Eigenes suchen kann. Wir hoffen, bis dahin wird noch eine Weile vergehen, denn wir genießen ihre Gesellschaft sehr.«
    »Meine Mutter ist vor kurzem gestorben«, erklärte Etna, »und ich mußte ihr Haus leider verkaufen. Bis der Nachlaß geregelt ist, wohne ich bei Tante und Onkel.«
    »Oh, es tut mir leid, daß Sie Ihre Mutter verloren haben«, sagte ich. Aber wie hätte es mir leid tun sollen, da doch dieser Tod Etna Bliss nach Thrupp geführt hatte? »Ich hoffe, ihr Tod hat Sie nicht aus heiterem Himmel getroffen.«
    »Nein, sie war schon eine geraume Zeit krank.«
    »Und Ihr Vater?« fragte ich.
    »Mein Vater ist vor einigen Jahren gestorben.«
    »Verzeihen Sie«, sagte ich.
    »Aber bitte«, erwiderte sie. »Ich habe noch zwei verheiratete Schwestern.«
    »Ah, ja. Und wo waren Sie zu Hause?«
    »In Exeter.«
    »Etnas Ankunft hier war ein äußerst glücklicher Zufall«, sagte Bliss, »da meine Tochter mit ihrem Mann über Weihnachten nach San Francisco gereist ist, um ihre Schwiegereltern zu besuchen.«
    »Ah, ja«, sagte ich wieder und erinnerte mich vage einer mageren, elegant gekleideten jungen Frau, in deren Begleitung ich Bliss bisweilen bei gesellschaftlichen Veranstaltungen des College gesehen hatte.
    »Evelyn und ich wären recht einsam hier ohne Etna und unsere Enkelin. Ich hoffe, sie wird nach der Rückkehr meiner Tochter noch lange bleiben.«
    Ich bin sicher, daß ich in diesem Moment zum erstenmal einen schwachen Schimmer der Beunruhigung über die Züge von Etna Bliss huschen sah, die mir gegenübersaß, und ich begriff sofort, daß die Aussicht auf längerwährende Gefangenschaft in diesen überladenen Räumen nichts Verlockendes für sie besaß. Vielleicht hatte auch sie das Gefühl, ihr würde die Luft aus dem Körper gesogen von all der erdrückenden Pracht. Eine Tür öffnete sich in meinem Inneren.
    Ich beugte mich vor, in diesem Moment schon ein Bittsteller. »Ich weiß, daß Ihr Onkel Ihnen ein hervorragender Begleiter ist«, sagte ich, »aber es wäre mir ein Vergnügen, Ihnen einige der bescheidenen Schätze zu zeigen, die Thrupp zu bieten hat, die Metcalf-Bibliothek zum Beispiel oder die Elliot-Kollektion. Haben Sie die schon besichtigt?«
    »Nein«, antwortete sie, und wieder hatte ich den Eindruck, daß ihr der Gedanke, aus diesem Haus hinauszukommen, durchaus angenehm war.
    »Etna kümmert sich sehr viel um unsere Enkelin Aurelia«, bemerkte Bliss zur Erklärung. »Ich fürchte, wir haben sie daran gehindert, sich mit jungen Menschen ihres eigenen Alters zu vergnügen.«
    Es hätte mich interessiert, wie alt genau Etna Bliss war. Sicher doch mindestens vierundzwanzig, aber nicht älter als achtundzwanzig? Knapp an der

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