Alles, was er wollte: Roman (German Edition)
Punkten scharfen Blicks, vielleicht auch das Schwanken des vorwärtseilenden Zuges oder das beruhigende Klopfen der Gleisschwellen unter den Rädern oder, was wahrscheinlicher ist, die Vorstellung, hier, in einem fahrenden Zug, ein Pult zu haben (genauer gesagt, ein Tischlein), auf dem Feder und Schreibheft liegen – die Vorstellung vom rollenden Arbeitszimmer –, schuld daran, daß ich mich jetzt veranlaßt fühle, mit der Erzählung einer persönlichen Geschichte zu beginnen, die ich seit langem schreiben wollte, ohne daß ich je die notwendige Stärke dafür besessen hätte … (Die drei Pünktchen stehen für eine längere Debatte, die ich an dieser Stelle mit mir selbst darüber führte, ob ich die Ereignisse, von denen ich berichten möchte, mit rückhaltloser Ehrlichkeit aufdecken soll; und ich habe mir überlegt, daß dieses Dokument so wertlos wäre wie ein im Wasser treibendes Fetzchen Asche, wenn ich mich in die Lüge flüchtete, und sei es auch die Lüge durch Verschweigen einzelner Begebenheiten. Darum werde ich auf diesen Seiten die ganze Wahrheit sagen, auch wenn mir das den schlimmsten Schmerz bereitet – und das wird es tun, ganz sicher!) … (Mir ist allerdings, wie ich in dieser weiteren Parenthese bemerken muß, durchaus klar, daß ich Passagen, die mir nicht behagen, später jederzeit streichen, den Text noch einmal abschreiben und bearbeiten kann, sollte ich die Lektüre der sich ergebenden Wahrheit allzu leidvoll finden. Und gilt das nicht für jede Geschichte, die man zu seinen Lebzeiten erzählt, sei es schriftlich oder mündlich? Wie zum Beispiel wird man mir nach der Ankunft am Ziel meiner Reise den Tod meiner Schwester darstellen? Werden nicht die Erzählungen über die Totenwache sich erheblich voneinander unterscheiden, je nach Erzähler und unterschlagenen Details, wie etwa bestimmten körperlichen Heimsuchungen, die zu enthüllen eine Tochter oder Cousine vielleicht für unziemlich hält?)
Ich weiß von den Vorteilen, die es haben kann, seine Gedanken – Erinnerungen in diesem Fall – zu Papier zu bringen, nicht umsonst habe ich im Rahmen meines Fachgebiets diverse Monographien und Aufsätze veröffentlicht, unter ihnen vor allem meine berühmte Abhandlung über Scotts Marmion und mein nicht ganz so bekannter, aber von den Kritikern ebenso günstig aufgenommener Kommentar zu den Sir Roger de Coverley Papers im Spectator . Natürlich ist ein Unterfangen wie dieses – ich nehme es am heutigen 20. September 1933 in Angriff – mehr mit Furcht verbunden als mit Gedanken an Anerkennung, da man nicht weiß, was für Gefühle eine solche Erzählung wecken wird; aber ich bin entschlossen, es für meinen Sohn Nicodemus zu wagen, der beinahe mit Sicherheit eines Tages eine Frage stellen wird, die zu beantworten seinen Vater allen Mut kosten wird.
ES HAT HIER IM ZUG EINIGE AUFREGUNG GEGEBEN, und ich muß gestehen, daß ich eben erst anfange, mich vom Schock des Ereignisses zu erholen. Als wir uns New Haven näherten, gab es plötzlich ein ohrenbetäubendes Kreischen und gleich darauf einen gewaltigen Ruck. Der Waggon, in dem ich mich befand, entgleiste, alles in meinem Abteil wurde wild durcheinandergeworfen und ich selbst ziemlich unsanft gegen die Gepäckablage geschleudert. Ich habe eine häßliche Beule an der Stirn davongetragen, hoffe jedoch, daß sie bis zu meiner Ankunft in Florida im wesentlichen wieder verschwunden sein wird.
Ich will hier nicht von dem Schrecken berichten, den der Zwischenfall bei mir hervorrief, aber einen Moment lang glaubte ich wahrhaftig, mein Ende sei gekommen, und dachte schon im nächsten Augenblick (wie flink ist doch die Phantasie!) an mein eigenes Begräbnis; gleich darauf jedoch begann ich mich zu sorgen, wer zu einem solchen Anlaß überhaupt erscheinen würde, und ließ darum von diesen Gedanken ab. Doch während uns das Zugpersonal aus dem verunglückten Wagen half, spielte ich ernstlich mit dem Gedanken, die Reise nicht fortzusetzen, sondern lieber nach New Hampshire zurückzukehren. Aber ich überlegte mir, daß ich dann ebenfalls die Bahn nehmen müßte, und fragte mich, wo denn – abgesehen von der Dauer der Fahrt – der Unterschied zu der Reise nach Florida liege.
So sitze ich also wieder behaglich in meinem rollenden Arbeitszimmer (es ist ein anderes Abteil, ein Schlafwagenabteil). Meine Bücher haben keinen Schaden genommen, doch die Kuchendose, in der Etnas Briefe liegen, ist an einer Ecke so stark eingedrückt, daß sie, wie
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