Alles, was er wollte: Roman (German Edition)
sie mir da (anklagend, für mein Gefühl) auf dem Sitz gegenübersteht, schwere Schlagseite hat.
Ich habe soeben eine kräftige Mahlzeit, bestehend aus Schweinebraten mit Dörrpflaumen, zum Nachtisch Apfelflammeri, zu mir genommen und ein Glas fruchtigen Wein dazu getrunken, bin also nachhaltig gesättigt und kann mit voller Zufriedenheit einem angenehmen Schreibnachmittag entgegensehen, da dieser Teil meines Berichts nicht wenig Beglückendes enthält, und danach einer Nacht gesunden Schlafs, der sich dank des rhythmischen Schaukelns des Zuges gewiß schnell einstellen wird.
Beschwingt von meinem kurzen Besuch bei der Familie Bliss, ging ich mit einer Zielstrebigkeit, wie ich sie weder vorher noch nachher je an mir beobachtet habe, daran, die Frau zu erobern, die mit ihrer Stimme und Erscheinung jede Faser meines Körpers in heftige Schwingungen versetzt und alle Dämme meiner Seele eingerissen hatte. Ein solcher Zustand, habe ich manchmal gedacht, muß der Ekstase verwandt sein, die das Leben des religiösen Mystikers kennzeichnet – wenn der Leib vom Geist Gottes erfüllt ist. Ich hoffe, man wird mir diesen Vergleich nicht als Blasphemie auslegen, aber ich glaube, nie in meinem Leben war ich reiner Seligkeit näher als in den Wochen und Monaten meines Werbens um Etna Bliss. Dieser Seelenzustand äußerte sich ebenso in meiner Rede und meinem Verhalten wie in einem schier ununterdrückbaren Lächeln. Andere empfanden mich in dieser Zeit nicht nur als freundlicher und einfühlsamer, sondern auch als körperlich anziehender, vielleicht eine Erklärung dafür, daß Miss Bliss die Vorstellung, mich auf verschiedene Ausflüge zu begleiten, nicht gänzlich abwegig fand.
Die Studenten machten ihre Bemerkungen über meine ungewohnte Milde, und wenn sie sie ausnutzten, so war mir das gleichgültig. Kollegen, die mich nicht anders als mit ernster Miene kannten, reagierten zunächst verwundert und dann sehr aufgeschlossen auf meine Verwandlung. Man trug mir in dieser Zeit die Leitung eines Ausschusses an, der sich mit der Idee einer Neugestaltung des Curriculums im Fach englische Literatur für das kommende Unterrichtsjahr befassen sollte. Meine Studenten baten mich, die Aufsicht beim Winterball zu übernehmen. (Ich erinnere mich, daß ich mich darüber freute und augenblicklich daran dachte, Etna aufzufordern, diese angenehme Aufgabe mit mir zu teilen.) Noah Fitch, ein älterer Kollege, Professor für Englische Literatur und Rhetorik wie ich, lud mich ein, Weihnachten im Kreis seiner Familie zu feiern (eine Feiertagseinladung der Familie Bliss, auf die ich insgeheim hoffte, erhielt ich leider nicht), und John Birch Clark, einer meiner ehemaligen Lehrer in Dartmouth, bat mich zu einer Soiree in seinem Hause. Zu meinem Bedauern konnte ich Etna nicht überreden, mich zu dieser Festlichkeit zu begleiten, da sie eine Übernachtung in Hanover nötig machte, wobei für mich allein schon der Gedanke daran Seligkeit war.
In dieser Zeit suchte ich einen Schneider auf und bestellte drei Anzüge, da ich in meinen alten abgewetzt wie das arme Lehrerlein daherkam. Der Wochen am College erinnere ich mich kaum. Ich bin sicher, meine Studenten profitierten bei den Prüfungen von meiner überschwenglichen Stimmung, da ich in jenen Monaten das trockene Schulmeistergebaren zugunsten der blutvollen Lebendigkeit des Verliebten abwarf. Wenn meine Studenten in diesem Wintersemester 1899 überhaupt etwas lernten, dann das, daß die Liebe selbst den beherrschtesten und Gefühlen gegenüber verschlossensten Menschen verwandeln kann.
Vier Tage nach dem Brand und drei Tage nach unserer kleinen Teestunde sandte ich Etna Bliss ein Briefchen, in dem ich anfragte, ob ich sie in vier Tagen zu einem Spaziergang abholen dürfe. Es schien mir eine kluge Bitte, und ich konnte hoffen, daß sie sie gewähren würde, entkäme sie doch der stickigen und betäubenden Atmosphäre des Hauses Bliss, ohne sich allzuweit zu entfernen. Und in der Tat erhielt ich postwendend Antwort. (Monatelang klebte danach dieses kurze Schreiben, das erste von Etnas Hand und daher von höchster Bedeutung für mich, am Spiegel über der Frisierkommode in meiner Wohnung.)
9. Dezember 1899
Sehr geehrter Professor Van Tassel,
gern werde ich Sie am 12. Dezember um fünfzehn Uhr zu einem kurzen Spaziergang begleiten.
Hochachtungsvoll
Etna Bliss
Wie das Schicksal es wollte, hatten wir in der dazwischenliegenden Zeit einen weiteren Schneesturm und dann, am Tag des verabredeten
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