Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
nach Hause bringen«, sagte sie. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie eine Droschke für uns auftreiben könnten. Meine Tante hat sehr viel Rauch eingeatmet und kann den Weg bis zum Haus unmöglich zu Fuß bewältigen.«
    »Selbstverständlich«, sagte ich. »Würden Sie hier warten?«
    »Ja«, antwortete sie schlicht, mir das höchste Vertrauen gewährend, indem sie das Wohl ihrer Tante in meine Hände legte.
    An diesem Abend wurde mir klar, daß ein Mann niemals so tatkräftig und wachsam ist wie im Dienst einer Frau, der er zu gefallen hofft. Unverzüglich trat ich auf die Straße hinaus, in der Hand einige Geldscheine, die das Augenmerk eines Droschkenkutschers auf sich zogen, der zwar bereits Fahrgäste hatte, aber zweifellos eine Gelegenheit sah, noch mehr zu verdienen, indem er weitere Leute in sein Gefährt mit den zerschlissenen Sitzpolstern quetschte. Während er noch rechnete, sprang ich auf den Wagen und gab sofort Anweisungen.
    »Sir, das geht nicht«, protestierte er, auf ein zusätzliches Trinkgeld erpicht.
    Aber ich herrschte ihn an, und mit Recht. »Hier ist ein schreckliches Unglück geschehen, und überall sind die Menschen in großer Not. Sie sollten helfen, ohne etwas dafür zu verlangen«, sagte ich.
    Zu meinem Erstaunen, denn ich hatte mittlerweile an der Realität meiner Begegnung mit der Frau zu zweifeln begonnen (und, genauer gesagt, Zweifel bekommen, daß eine so faszinierende Frau lange ohne Beistand bleiben würde), standen die beiden Frauen mit dem Kind noch dort, wo ich sie zurückgelassen hatte. Ich half zuerst der älteren, die jetzt heftig zitterte, in den Wagen und danach der jüngeren mit dem Kind: Ihre Hand lag überraschend warm in meiner eiskalten. Die anderen Fahrgäste, die nach Hause wollten, um ein heißes Bad zu nehmen, konnten ihre Verärgerung über die Verzögerung kaum bezähmen, aber sie rückten doch zusammen, um meinen Schützlingen und mir Platz zu machen.
    »Madam, ich brauche eine Adresse«, sagte ich.
    Die Fahrt kann keine halbe Stunde gedauert haben, obwohl der Kutscher zuerst die andere Gruppe nach Hause brachte. Ich saß der immer noch hustenden Tante gegenüber und einem Paar, das vielleicht der Besitztümer gedachte, die es in der Hotelgarderobe verloren hatte (einen gefärbten Fuchsmantel?, einen Krokodillederkoffer?), aber ich nahm einzig den leichten Druck an meinem Ellbogen wahr, der einmal stärker, einmal schwächer wurde, je nachdem, ob die Frau an meiner Seite sich um das Kind kümmerte oder sich vorbeugte, um ihrer Tante die Hand auf den Arm zu legen. Und allein dieser leichte Druck, dessen sich die Frau neben mir zweifellos überhaupt nicht bewußt war, bescherte mir den Moment intensivster Körperlichkeit, den ich bis dahin erlebt hatte – so beeindruckend, daß ich nur die Augen zu schließen brauche, um hier, in meinem Eisenbahnabteil, seine köstliche Verheißung und, ja, seine Erotik wieder heraufzubeschwören, trotz allem, was danach folgte und eine so fragile Erinnerung hätte zerstören können.
    Wir fuhren die Wheelock Street hinauf, bis wir zu einem altmodischen bienenwachsfarbenen Holzschindelhaus kamen, einem schmucklosen Bau wie die meisten Häuser in dieser Straße. Mir persönlich war diese Schnörkellosigkeit weit sympathischer als die Zuckerbäckerarchitektur in der benachbarten Gill Street mit diesen großen, winkligen Häusern, überall mit Ziergiebeln und Balkonen befrachtet, ohne jede Symmetrie. Allerdings boten diese neueren Häuser bessere Möglichkeiten zum Einbau sanitärer Anlagen, was einen vielleicht dazu bewegen konnte, die Ästhetik hintanzustellen.
    Das Haus der Familie Bliss hatte elf Zimmer – die Dienstbotenunterkünfte in der Mansarde nicht mitgerechnet –, davon zwei Salons, ein Speisezimmer und ein Arbeitszimmer. Es wurde seit dem vergangenen Jahr mit Dampf beheizt, der so geräuschvoll zischend und glucksend durch silberne Heizkörper strömte, daß ich manchmal, wenn wir in diesen überladenen Räumen mit den aufdringlichen Tapeten Backgammon spielten oder Tee tranken oder auch beim Abendessen saßen, fürchtete, die Geräte könnten jeden Moment explodieren und uns alle mit kochendheißem Dampf verbrühen.
    »Ach, dieses Haus kenne ich, Madam«, sagte ich. »Hier wohnt William Bliss.«
    »Er ist mein Onkel.«
    Erst da sah ich, daß die Frau mir gegenüber, die ich für alt gehalten hatte, allenfalls mittleren Alters war: die Ehefrau des Physikprofessors, und ich war ihr bei mindestens drei Veranstaltungen

Weitere Kostenlose Bücher