Alles, was ist: Roman (German Edition)
unter ihren Augen, und sie hatte Haltung.
Sie war extrem loyal und erwartete auch ihrerseits Loyalität. Ein Journalist, den sie kannte und mit dem sie befreundet waren, hatte über Robert Baum einen langen Artikel geschrieben und ihn in seinem Büro und während mehrerer Mittagessen interviewt. Baum konnte übermütig sein. Sein Verlag allein war mit ein oder zwei anderen für mindestens die Hälfte der amerikanischen Literatur verantwortlich. Es gab im Grunde niemanden, der über ihm stand. Er hatte sich über die Jahre kaum verändert, auch wenn er etwas teurere Kleidung und ab und zu einen Filzhut trug. Er war charmant und konnte furchtbar fluchen, die oder der solle doch zur Hölle fahren, fast wie ein Agent. Er kümmerte sich um seine Autoren, sprach privat aber nicht immer respektvoll von ihnen. Der Artikel gab wieder, dass er von ›großen Schriftstellern‹ und ›großen Schwindlern‹ sprach. Und auch von ›großen, großen Schriftstellern‹. Diana fand den Artikel peinlich. Bei einem Empfang lief ihr der Journalist zufällig über den Weg und fragte: »Du bist doch nicht verärgert?«
»Nein, nur gleichgültig«, sagte Diana.
Sie redete nicht um den heißen Brei herum. Sie hatte einen leichten New Yorker Akzent, war aber nicht »typisch New York«, wie es nur Leute von außerhalb sein konnten, sie war die echte Ware. Wenn sie einen Schriftsteller schätzte, war das eine Auszeichnung, die mitunter auch eine Bürde war. Aber sie respektierte und verteidigte sie. Einer jungen Frau, die so gut wie jedem Lektor in der Stadt erzählt hatte, sie hätte eine kurze Affäre mit Saul Bellow gehabt, sagte sie kalt:
»Hören Sie, Kindchen. Das macht man einfach nicht. Sie müssen sich das Recht, einen berühmten Schriftsteller vorzuführen, schon verdienen .«
Diana war in den Jahren vor dem Krieg in einem Apartment weit oben auf der Central Park West am äußeren Rand der Achtbarkeit mit einer täglichen Kost aus Politik und anderem Tagesgeschehen aufgezogen worden. Ihr Vater besaß eine kleine Textilimportfirma und hatte wie alle anderen während der Depression schwer zu kämpfen, aber jeden Abend setzte sich die Familie zusammen an den Tisch und erzählte, was in der Stadt und der Welt und auch in der Schule alles so passiert war. Seit sie acht Jahre war, las sie die Times , wie auch der Rest der Familie, einschließlich der Leitartikel. Keine andere Zeitung war im Haus erlaubt. Nur in der Highschool las sie in der Subway die Daily News und fühlte sich schuldig dabei.
Sie ehrte ihren Vater, sein Name war Jacob Lindner. Sie mochte sein Haar, seinen Geruch, seine kräftigen Beine. Das Bild von ihm in Unterhemd am Morgen in dem kleinen Schlafzimmer ihrer Eltern, wenn er sich fertigmachte, war eins der frühesten Bilder ihrer Kindheit. Sie liebte seine Freundlichkeit und seine Kraft. Irgendwann investierte er mit einem langjährigen Freund mehr Geld, als er hätte sollen, in eine Immobilie in Jersey City. Dann konnten sie die Raten nicht mehr bezahlen. Die Bank kündigte die Hypothek. Es kam zur Zwangsvollstreckung, und sie waren vernichtet. Er redete nicht darüber, außer mit seiner Frau, aber sie alle wussten es. Wir kommen schon zurecht, erklärte er.
Jahre später hatte sie in der Subway ein verstörendes Erlebnis. Sie saß einer Obdachlosen gegenüber, einer armen, alten Frau, die ihre ganze Habe in Plastiktüten bei sich hatte.
»Hallo, Diana«, sagte die Frau leise.
»Wie bitte?«
Sie sah die Frau an.
»Wie geht es Robert?«, fragte die Frau. »Schreibst du noch?«
Sie hatte seit dem College nicht mehr geschrieben. Sie musste sich verhört haben, aber dann, plötzlich, erkannte sie die Frau, es war eine Schulkameradin von früher, ein Mädchen namens Jean Brand, mit der sie aufs College gegangen war und die kurz darauf geheiratet hatte. Sie war hübsch gewesen. Jetzt sah man Lücken, wo ihre perfekten Zähne gewesen waren. Diana öffnete ihre Tasche und nahm alles Geld aus dem Portemonnaie. Sie drückte es ihrer Freundin in die Hand.
»Hier. Nimm«, gelang es ihr zu sagen.
Die Frau nahm zögerlich das Geld.
»Danke«, sagte sie ruhig, und dann: »Ich komm schon klar.«
Diana dachte an ihren Vater. Niemand hatte ihm geholfen. Er hatte sich von dem Verlust nie erholt. Wir kommen schon zurecht, hatte er immer gesagt.
Sie erzählte Robert von der Geschichte, aber niemandem sonst. Allein davon zu erzählen war schlimm für sie. Sie hatte Robert kennengelernt, als sie achtzehn war. Er fühlte
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