Alles, was ist: Roman (German Edition)
er selten nachdachte. Er war nie besonders jung gewesen, oder, um es anders auszudrücken, er war eine lange Zeit jung gewesen, und jetzt hatte er sein wahres Alter erreicht, alt genug für die zivilisierten Freuden und nicht zu alt für die primären.
Menschen suchten seinen Rat und manchmal auch Trost bei ihm. Eine Lektorin, die er sehr mochte, eine Frau mit wissendem Gesicht und der Fähigkeit, innerhalb weniger Momente Bedeutung zu erkennen, hatte Probleme mit ihrem Sohn. Er war dreißig, psychisch instabil und nie imstande gewesen, seinen Weg zu finden. Irgendwann hatte er sich Gott zugewandt und war religiös geworden. Er unternahm eine Pilgerfahrt nach Jerusalem und las den ganzen Tag die Bibel. Seine Leidenschaft, gestand er seiner Mutter, »galt dem Absoluten«. Es machte ihr natürlich Angst. Wie oft bei gequälten Seelen war er sehr freundlich und sanft. Sein Vater hatte ihn abgelehnt.
Es gab im Grunde nur wenig, was Bowman tun konnte, außer zuzuhören und Verständnis zu zeigen. Therapeuten hatten bereits versagt. Dennoch war er eine Hilfe.
Allgemein galt er als Mann, der noch keine Familie gegründet hatte, aber in der besten Position dafür war. Er wirkte jung für sein Alter, er war fünfundvierzig. Er hatte noch kein graues Haar. Es schien, als stünde er mit dem Leben auf gutem Fuß. Zudem schätzte man ihn als eine jener leicht rätselhaften Gestalten, die fähig waren, die fast magische Verwandlung zu vollführen – und aus einer Person einen Autoren zu machen. Das konnte er, so sagte man zumindest.
Sie liebe es zu lesen, gestand ihm die blonde Frau neben ihm am Tisch. Es war auf einer Dinnerparty für zwölf in einem großen Apartment mit viel Kunst und einem Flügel und zwei großen, ineinander übergehenden Räumen, der eine mit bequemen Sesseln für Drinks und der andere mit dem langen Esstisch, einer Anrichte, einem Sofa in einer Ecke und weiten Fenstern, die auf den Park hinausgingen.
Sie liebe es zu lesen, sagte sie, nur könne sie sich nie erinnern, was sie gelesen hatte – Do ñ a Flor und ihre zwei Ehemänner sei der einzige Titel, der ihr im Moment einfiel.
»Ja«, sagte Bowman.
Er hatte gerade einen weiteren Bissen genommen, als sie fragte:
»Welche Art Bücher publizieren Sie?«
»Belletristik und Sachbücher«, sagte er simpel.
Sie sah ihn einen Moment erstaunt an, als hätte er etwas Unglaubliches gesagt.
»Wie war noch Ihr Name?«
»Philip Bowman.«
Sie schwieg. Dann sagte sie:
»Das dort ist mein Mann«, und zeigte auf einen Mann ihnen gegenüber am Tisch.
Er war Anwalt, wie Bowman bereits erfahren hatte.
»Soll ich Ihnen eine Geschichte erzählen?«, fragte sie. »Wir waren in Cape Cod zu Besuch bei Freunden, und da war dieser Mann, ein Architekt, ein wirklich netter Mann. Er sollte an dem Abend eigentlich jemanden kennenlernen, aber die Frau ist nicht gekommen. Er war gerade geschieden. Er war mit einer Schauspielerin verheiratet, ein Jahr hat es gehalten. Es war sehr schmerzhaft für ihn. Sind Sie verheiratet?«, fragte sie beiläufig.
»Nein«, sagte Bowman. »Ich bin geschieden.«
»Wie schade«, sagte sie. »Ich und mein Mann sind jetzt zwölf Jahre verheiratet. Wir haben uns in Florida kennengelernt – ich komme aus Florida –, ich war gerade mit der Schule fertig und arbeitete in einem kleinen Antikladen und hängte Bilder auf, und da hat er mich gesehen und sich gleich in mich verliebt. Er sah dieses blonde mittelständische Mädchen aus gutem Hause – Sie wissen schon, Männer haben dieses Bild im Kopf –, und das war es dann im Grunde.«
Hinter ihr und der Gastgeberin konnte er die Tür zur hell erleuchteten Küche sehen.
»Wohin schauen Sie?«
»Da ist gerade eine Maus entlanggelaufen«, sagte Bowman.
»Eine Maus? Sie müssen ja gute Augen haben. War sie groß?«
»Nein, nur eine kleine Maus.«
»Soll ich Ihnen noch den Rest der Geschichte erzählen?«
»Wo waren wir?«
»Der Architekt …«
»Der geschiedene Architekt.«
»Genau. Also. Schließlich tauchte die Frau, die er kennenlernen sollte, doch noch auf. Sie hatte ein hautenges Kleid an. Sie war die vollkommen falsche Person für ihn. Ich meine, sie hatte einen großen Auftritt. Ich hab mich früher auch so angezogen. Ich weiß, wovon ich rede. Die Wahrheit ist«, sagte sie plötzlich, »ich hab mich furchtbar in ihn verliebt. Er war geschieden, er war verletzlich. Ich war nach dem Essen auf der Couch eingeschlafen, und als ich die Augen aufmachte, saß er neben mir. Wir sprachen
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