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Alles Zirkus

Alles Zirkus

Titel: Alles Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Brandt
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Pakete. Sie blickt an sich hinab und stellt sich vor, ein kompliziertes Ledergebilde mit Ösen und Schnallen zu tragen, wie es auf der Lindner-Kunstkarte an der Wand zu sehen ist, statt Pullover und Jeans. In Walters rotes Haar mischt sich neuerdings Grau. Steht ihm gut, gerade wie er es jetzt trägt, lang. Manchmal vermisst sie das Gefühl seiner Stoppeln von früher in der Hand, ihm über den Kopf zu streichen und ein gleichmäßiges Rauschen auf den Fingern zu spüren wie von einer warmen Bürste. So verrückt ist sie nach ihm gewesen, damals in München. Jede Stunde, die sie nicht zusammen waren, sah sie als verloren an. Ist Walter glücklich mit ihr? Er sagt es, wenn sie sich umarmen. Und dann sinkt er wieder in sich. Zurück hinter die Mauer, die zwischen ihnen steht. Irgendwann hat sie sich daran gewöhnt.
    Ihr Blick heftet sich wieder an das Buch auf dem Tisch. Wie kann man ein Bild reproduzieren, das offensichtlich eine Collage ist, und dann darunterschreiben »Aquarell«? Sie versucht sich Richard Lindner als jungen Mann vorzustellen. Noch als alter Mann wirkte er auf Fotos so jugendlich, dass es ihr gerade darum nicht leichtfällt, ihn in Gedanken zu verjüngen. Wie hat er gelebt damals in München? Sie malt sich sein Stammlokal zu der Zeit aus, als er die Kunstakademie besuchte und dann als Grafiker arbeitete. Café Heck, es existiert nicht mehr, heute ist dort ein anderes Lokal. Vielleicht finden sich irgendwo in den Ecken noch Atome seines Wesens. Anfang der dreißiger Jahre kehrten Lindner und seine Freunde aus der Redaktion des Simplicissimus regelmäßig dort ein, alle als Künstler zu erkennen: Karl Arnold, Thomas Theodor Heine oder der Norweger Olaf Gulbransson, der dort aber vermutlich nicht in seiner Arbeitskleidung erschien, die aus einer großen, vor den Bauch gebundenen Lederschürze und sonst nichts bestand. Ein Künstlerlokal jedenfalls, und wahrscheinlich war das der Grund, weshalb auch Hitler so gerne hinging. Voller Demut begegnete der gescheiterte Maler jenen, die tatsächlich Künstler waren, ließ sich gefallen, dass sie ihn mit Spott übergossen. Nun, sie benutzten bescheiden Stift und Pinsel zur Umsetzung ihrer Ideen, was ihm versagt blieb. Er musste sich etwas anderes ausdenken. Und vor der sozialen Plastik, die dabei herauskam, konnte Lindner seine Haut bloß noch durch die sofortige Flucht retten. Hitler hatte gesiegt.
    »Kann man sein Scheitern deutlicher zu Protokoll geben als durch Selbstmord?«, hatte Bruno Gerber eingewandt, als sie vor einigen Wochen darüber diskutierten.
    So viel stimmt, Lindner war kein Verfolgter des Naziregimes, Lindner lebte in New York besser, als es in München oder Berlin je zu erwarten gewesen wäre. In späteren Jahren, als er schon reich war, verbrachte er dann auch noch einen Teil des Jahres in Paris – und ließ sich im Bentley vom Atelier abholen, wenn es Zeit für den Aperitif war, ehe er dann zu der jungen französischen Malerin weiterfuhr, mit der er jetzt verheiratet war.
    »Gut, und was seht ihr nun als euer Erbe an?«, hat sie Bruno gefragt. Er sagte nichts darauf, und die Miene verriet nicht, ob er erfasste, worum es ihr ging.
    Von der Straße, die sie aus ihrem Hinterhofbüro nicht überschauen kann, dringt das Summen des Müllwagens hoch, der sich von einer Station zur nächsten vorarbeitet; zwei, dreimal krachen die Behälter bei der Entleerung, bevor die Müllmänner die leicht gewordenen Plastiktonnen aus der Befestigung lösen und vernehmlich vor die Häuser rollen. Als Trixi sich kürzlich samstagmorgens im Bett vom Lärm gestört fühlte, behauptete Walter, dies sei nichts gegen das Donnern der Tonnen früher in Berlin. Zu der Zeit, begeisterte er sich über die Belästigung, seien sie nämlich noch aus schwerem, verzinktem Blech gewesen. Mit welch ungeheurem Getöse damals die Tonne gegen den eisernen Schlund des Müllwagens geschmettert worden sei! Und dann wurden sie einhändig am Deckelknauf auf dem Rand, als sei er dafür gemacht, über das Kopfsteinpflaster gerollt, denn diese Berliner Urtonne verfügte selbstverständlich nicht über Räder, so wie die modernen Scherzartikel hier. Das ganze untergegangene Spektakel sah er anscheinend vor sich wie eine mitreißende Tanzdarbietung, der er nicht alleine, sondern schon vor dem Frühstück unbedingt mit ihr im Arm hätte folgen wollen.

Fehltritt
    Während er mit einem Auge darauf achtet, dass sie in der Spur bleiben, dreht Walter an verschiedenen Knöpfen, um die getrennten

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