Alles Zirkus
nicht los wird, als bleibe er ihr fortwährend etwas schuldig, versteht er nicht. Umso wehrloser ist er damit aus der Wohnung gegangen, und die zertrümmerte Scheibe schien ihm die Quittung für all das, was sich nicht greifen lässt.
Ein stämmiger kleiner Mann von der Statur eines abgesägten Baums erhebt sich Mal um Mal, wenn ein Polizist mit den Gummisohlen über den Steinfußboden quietscht und dann keine Notiz von ihm nimmt. Sitzt er dann wieder auf dem Stuhl, fällt der Unterschied kaum auf. Außerdem hat sich eine Gruppe Orientalen eingerichtet. Ein paar Männer, Frauen, eine Riege Mädchen. Ein Junge ist auch dabei, ein einziger, mit flaumig überschattetem Mund. Die Frauen sprechen gleichzeitig in ihrer fremden Sprache aufeinander und auf die Männer ein, von denen sie schweigend ignoriert werden. Zwischendurch löst sich die eine oder andere Stimme und ruft die Mädchen zur Ordnung, die sich trotzdem weiter von den Stühlen drängen, durch die Halle jagen und mehrsprachig krakeelen, während der Junge nur dasitzt und verschlossen wie eine Sphinx mit weichen Fingern die Tasten eines elektronischen Spielzeugs drückt.
Das herzförmige glatte Gesicht des Beamten hinter der Schreibtastatur zeigt nicht die geringste Regung, als Walters Anzeige endlich aufgenommen wird. Der Kommissar lässt keinen Zweifel, dass es nur darum gehen kann, die Sache formvollendet zu den Akten zu legen. Ihm als Geschädigtem stehe selbstverständlich frei, den Schaden der Versicherung zu melden.
»Dafür lassen Sie mich stundenlang warten? Das weiß ich auch selbst. Welches Honorar zahlen Sie eigentlich Ganoven, die zwischen zwei Einbrüchen von sich aus bei Ihnen vorsprechen, um die Akte auf den neuen Stand bringen zu lassen?«
Wortlos schiebt der Beamte mit dem regungslosen Wachsgesicht das ausgefüllte Formular hinüber und fordert ihn mit dem Finger auf, an der bezeichneten Stelle zu unterschreiben. Kleine kühle Augen fixieren ihn.
»Wenn der Betreffende nichts weiter auf dem Kerbholz hat – und danach sieht es hier ja zunächst einmal aus, jedenfalls ist nichts aktenkundig, was mit diesem Fall in Verbindung zu bringen wäre –«, sagt der Ermittler, »sollte er lieber etwas Nützliches mit seiner Kraft anfangen. Das wird man ihm sehr ernsthaft nahezubringen versuchen, sobald man seiner habhaft geworden ist: ›Was sagt denn Ihre Freundin dazu‹, redet man ihm ins Gewissen, ›oder haben Sie Liebeskummer, und benehmen Sie sich darum schlecht?‹ Was wollen denn Sie unternommen wissen, Herr Tomm? Vielleicht führen wir Ihnen zu Gefallen die Streckbank wieder ein? Aber diese Zeiten sind vorbei! Wir vermitteln den jungen Mann in einen Verein (denn ein Täter und keine Täterin wird es wahrscheinlich sein, Zerstörungsdelikte dieser Art werden zu 80 Prozent von Jugendlichen männlichen Geschlechts begangen – so viel nur, damit Sie sich keinen falschen Vorstellungen hingeben und sehen, dass wir unsere Arbeit machen). Vielleicht hat er eine gute Stimme, dann wird er ermutigt zu musizieren. Warum nicht in einer Punk-Band? Oder – konservativer – ein Tangokurs in Argentinien. Er ist jung, hat seine Zukunft noch vor sich.«
»Und meine Zukunft? Was ist mit mir?«, murmelt Walter.
Identitätsprobleme
Das Radio lärmt aus den offenen Türen in den Hof, während Kupkas Handwerker mit Brötchen und Kaffee ein zweites Frühstück zu sich nehmen. Trixi beschließt, gleich etwas zu sagen und die Gelegenheit zu nutzen, sich vorzustellen. So lässt sich die Beschwerde freundlich verpacken. Sobald sie ihr Studio erreicht hat, schickt sie Gerbers Produktionsleiterin Monika eine Nachricht mit der Bitte um Recherchen in einem Filmarchiv. Im Schaufenster eines Antiquariats hat sie eine schöne alte Ausgabe der Shakespeare-Sonette gesehen. Der Laden war geschlossen, sonst hätte sie das Buch für Walter gekauft. Voller Zärtlichkeit denkt sie an ihn, tatenlos wird sie nicht zusehen, wie sich zwischen ihnen ein Abstand einrichtet. Nachdem sie sich einen Kaffee gemacht hat, blättert Trixi in einem ihrer Lindner-Bücher.
Am späten Vormittag verlässt sie ihr Büro und begibt sich zum Bahnhof, um nach Köln zu fahren. Gerber hat einen Termin mit einem Redakteur arrangiert. Das Entree zum Hochhaus des Fernsehsenders ist mit einer Schleuse aus schussfestem Glas gesichert. In seiner langen Liste der Mitarbeiter sucht der Mann in der Pförtnerloge nach der Telefonnummer des Redakteurs Christian Nitschke; sie sagt ihm die Durchwahl, aber
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