Alles Zirkus
smart« . Mirko Zabel war auch da, und so wurde der damals auf ihn aufmerksam. Die Routine jedoch, nach der es ihn jetzt mehr als nach irgendetwas anderem verlangt, das Verlässliche, Unspektakuläre, Übliche, nichts von alldem stellt sich heute ein. Und die Buchhandlung Wolff hat gerade geschlossen, als er vor der Glastür steht, um Trixis Buch abzuholen.
Sie trägt ein schwarzblaues Mieder, das Walter nie zuvor gesehen hat. Am Hals ist es mit Metallschnallen verschlossen, und unter ihren Brüsten zieht sich eine Schnürung hinab.
»Was ist das?«, fragt er.
»Weiß ich nicht.«
Vorhin, ehe sie ihn angerufen hat, sagt Trixi, ist sie in seinem Büro vorbeigegangen, um ihn auf einen Kaffee loszueisen. »Dort warst du nicht.«
Die ganze Zeit hat er am Schreibtisch gesessen, zwischendurch kurz einmal nicht – was spielt das für eine Rolle? Walter spürt das Wirbeln in seinem Kopf. Warum benimmt er sich, als hätte er etwas zu verbergen? Wieso hat er ihr nicht gleich verraten, wo er zufällig gerade war, als sie anrief? Anscheinend muss er zwanghaft dafür sorgen, dass dieses unergründliche Schuldgefühl Trixi gegenüber, das in ihm versteckt ist und normalerweise keine Gelegenheit erhält auf den Plan zu treten, sich eben doch präsentiert und wichtig macht. Selbst wenn es sich nur um eine so sinnlose wie überflüssige Lüge handelt – dafür reicht sie allemal. Dass sich nämlich die Frage in Erinnerung bringt: Wenn das nicht stimmt, was dann noch alles nicht? Und die Antwort darauf, die möglicherweise schlicht und einfach darin besteht, dass mit letzter Sicherheit gar kein Walter Tomm existiert, an den man sich halten kann. Sie nicht, und er selbst schon gar nicht. Dass man beim besten Willen nicht immerfort so tun kann, als handele es sich dabei um anderes als einen Wunsch, einen Willen, dem man abnimmt, mehr zu sein – solange man kann. Jedenfalls nimmt diese überflüssige Lüge, bei der er erwischt worden ist, allem, was er sonst noch zu sagen hat, die Selbstverständlichkeit.
Und wenn er jetzt die Mitteilung über einen Brief nachreicht, den er am Morgen aus den Kasten nahm, ihr erzählt, dass er das Büro verlassen hat, um der Frage persönlich nachzugehen, was man eigentlich von ihm will in jenem Institut, geht es kaum noch um all das und seine objektive Belanglosigkeit. Er hat dafür gesorgt, dass vollständig uninteressant geworden ist, was er nun wortreich ausführt: dass der Brief diesen zentralen Punkt ja gerade offenließ, wie er erklärt. Auch am Telefon hat ihm das niemand verraten können, und deswegen …
»Niemand?«, unterbricht sie müde seinen Sermon, wer denn all die ihm angeblich unbekannten Mathematiker sind, die er um Aufklärung gebeten hat.
Er fühlt sich jämmerlich. »Ich habe mich natürlich direkt an diesen Institutschef gewandt, der mir schließlich auch geschrieben hat, Maier heißt er, deswegen bin ich bei ihm gewesen. Sonst hätte ich mir das doch schenken können, und ein Anruf wäre ausreichend gewesen. Am Telefon aber hat Maier nicht sagen wollen, worum es geht.«
Trixi sieht ihn an mit einer Mischung aus Unglauben und Mitleid im Blick. Eigentlich wie einen Fremden. Einiges von dem, was er erzählt, kann stimmen. Idiot, denkt sie. Langsam und ohne nachzudenken, befreit sie sich aus ihren Verschnürungen und legt sich zu Walter ins Bett.
Nach einiger Zeit steht sie wieder auf. Sie nimmt ihre Decke mit, setzt sich an den Tisch in der Küche und notiert ein paar Gedanken, die ihre Arbeit betreffen. Zählte Richard Lindner zu den Künstlern, fragt sie sich, die in der Wohnung arbeiten, oder hat er es vorgezogen, externe Ateliers zu nutzen? Als er dann berühmt war, sind seine Frau und er zwischen New York und Paris gependelt. Wo hat er dort gewohnt und gemalt? Ist davon etwas zu filmen? Gibt es Fotos?
Später schmiegt Walter sich an sie, und während er sie zu küssen beginnt, flüstert er etwas vom duftenden Laub im Wald. Sie entzieht sich der Umarmung. Es dauert auch nicht lange, bis er in tiefe Bewusstlosigkeit zurücksinkt. Immer neu setzt er sie damit in Erstaunen: Während es ihr, gerade wenn sie erledigt ist, schwerfällt, auch nur in einen dünnen Schlaf einzutauchen, braucht er sich nur etwas anders zu drehen, dann liegt er schon wieder wie narkotisiert da.
Sein Arbeitstag hat ihn leergepumpt, stellt Mohnerlieser fest. Ein Blick auf die monströse Scherzuhr an seinem Handgelenk fördert einen Wasserstrahl zutage. Er steht von seinem Hocker vor der
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