Alles Zirkus
Inzwischen sei das alles nicht mehr so einfach, murmelt er bei der Lektüre. Dann richten sich seine Augen auf Trixi. Einer Kundin wie ihr brauche er ja eigentlich gar nicht viel zu erklären, lächelt er, sie wisse doch alleine, was los sei in der Welt.
Und dann buchstabiert er es ihr trotzdem vor: »Wir stecken mitten in der schlimmsten ökonomischen Krise seit Kriegsende. Somit liegt es im Interesse aller unserer Kunden – und, zu Ende gedacht, damit auch in ihrem eigenen –, wenn unser Institut sich Kreditanfragen wie dieser verschließt. In der gegenwärtigen Neukonsolidierungsphase wahrt unser Haus strikte Risikovermeidungsdisziplin. Ein Drehbuch?« Seine Züge suchen die Befriedigung zu verbergen, diese Frau hier vor ihm auflaufen zu lassen. Er klopft die ausgefüllten Formularbögen zusammen.
Trixi sieht zu, dass sie an die frische Luft kommt.
»Was hast du denn erwartet?«, sagt einige Zeit und eine Bahnfahrt später Bruno Gerber mit leiser, brüchiger Stimme. Sein Blick geht zum Fenster und scheint dort nach der Quelle zu suchen, aus der sich die Schwärze über sein Leben ergießt. »Banken tun, als gäben sie, wo sie nehmen. Sie hassen Leute wie dich.« Auf seinem Tisch ist das übliche Durcheinander ausgebreitet, und mittendrin biegen sich Tulpenstengel aus dem Vasenrand zur Achterbahn. Außer Bruno kennt sie keinen Mann, der darauf Wert legt, auf dem Schreibtisch immer einen Blumenstrauß zu haben. Gerber greift nach ihrer schlechten Nachricht wie nach frischem Baumaterial für seine eigene Depression.
Und Trixi registriert nicht zum ersten Mal, dass sie selber einen Tiefschlag abbekommen hat, aber dann, statt ihn zu verdauen, zuerst die Stimmungslage anderer aufbessert: »Als Kind wollte ich Tierpflegerin beim Zirkus werden, nachdem ich mich in einen siebenjährigen Jungen mit einem Seppelhut auf dem Kopf verliebt hatte, der eine Ziege durch die Manege führte, die sich weigerte, auch nur das geringste Kunststück zu zeigen.«
Bruno hat draußen nichts entdeckt, was ihm weiterhilft.
»Eine Existenz im Wohnwagen, statt sich für Filme abzurackern, die keiner in Auftrag geben will«, fährt sie fort. »Lindners Onkel hat übrigens so ähnlich gelebt. Er trat im Varieté auf, wusstest du das?«
»Ach«, haucht Gerber. »Na, so was.«
Eine Assistentin kommt herein und serviert wortlos grünen Tee. Bruno sieht auf. »Woher sollte ich irgendetwas von alledem wissen? Und wozu? Nichts, ich weiß gar nichts über diesen Lindner, verstehst du?« Er betont das so, als handele es sich bei diesem Tatbestand um eine zu Stolz berechtigende Leistung. »Bloß das bisschen, das in deinem Exposé steht, oder was du mir über ihn erzählt hast. Ein paar Bilder von früher – hingen nicht sogar welche hier im Museum?«
»Lass uns den Film machen, Bruno, dann tauchen sie wieder auf. Es sind Bühnen. Magische Szenen der Begierde, in denen Leben und Traum verfließen. Die Korsetts, die Lindners Mutter herstellte, haben anscheinend was ausgelöst bei ihrem Sohn. Ich möchte wissen, was. Sex und pure Geometrie. Nichts davon brauchst du zu wissen.«
Bruno verdreht die Augen und will gerade aufstöhnen. Aber Trixi macht einfach weiter: »Dieser Stoff gibt an jeder Stelle etwas her. Die warme Aura dieses unglaublichen bildnerischen Werks. Seine Lebensgeschichte im Deutschland von Dix und Tucholsky auf der einen Seite und von Hitler und Streicher auf der anderen. Einige Jahre in Paris, schließlich in New York.«
»Und was hat Lindner in Deutschland gemacht, bevor er floh?« Bruno bleibt lustlos.
»Er war Buchgestalter – etwa die Memoiren des Clowns Grock –, außerdem Zeichner für mehrere Zeitungen. Nebenbei allerdings hat er sich mit der Avantgardekunst seiner Zeit auseinandergesetzt, ohne selber Künstler zu sein, damals noch nicht … Duchamp zum Beispiel hat ihn sehr interessiert – später in Paris waren sie befreundet, und in New York taucht er sogar auf einem Bild Lindners auf. Wie er in München lebte, fragst du: Sein Stammlokal Anfang der dreißiger Jahre war ein kleines Café, in dem die Leute vom Simplicissimus verkehrten, mit denen er befreundet war – und wo auch Hitler hofhielt. Einmal kippte Lindners Bruder ohnmächtig vom Stuhl, da sprang der zukünftige Führer auf, der ganz schwarz gekleidet in Reitstiefeln und mit der Peitsche in der Hand ein paar Tische weiter saß, und half dem einen Lindner, den anderen ins Freie zu tragen.«
Eine der exzentrisch verbogenen Tulpen lässt in
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