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Alles Zirkus

Alles Zirkus

Titel: Alles Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Brandt
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dieser Sekunde die Hälfte ihrer Blütenblätter auf den Tisch regnen. »Als ob man an einer Strippe gezogen hätte, wie bei einem Hampelmann, hast du das gesehen?« Gerber nimmt den Strauß und steckt ihn in den Papierkorb.
    Trixi trinkt an ihrem Tee. »Was hat er gemacht? Lindner ging viel ins Kino – oft mehrfach am Tag«, sagt sie. »Ende Januar 1933 kam er nachmittags wieder aus einer Vorstellung und sah auf der Straße die SA im Siegesrausch. Auf der Stelle war ihm klar, dass er keine Zeit zu verlieren hatte, ging gar nicht mehr nach Hause und nahm am selben Abend den Zug nach Paris. Seine Frau folgte ihm kurz darauf.«
    »Paris war ja auch nicht sicher.«
    »Die Franzosen haben die beiden als ›feindliche Ausländer‹ interniert, als die Deutschen einmarschierten. Nach einigen Wochen kamen sie frei und schafften es nach New York. Und da ist er dann – mit fünfzig Jahren – der Maler geworden, um den es in unserem Film gehen wird.«
    Bruno Gerber schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch und sieht sie an.
    Am nächsten Vormittag steht im Hof wieder Kupkas Lieferwagen herum, lautlos, die Türen sind geschlossen und keiner der jungen Parkettleger sitzt darin. Oben bei ihr türmen sich Stapel von unterschiedlich dicht beschriebenen, teils auch mit skizzenhaften Zeichnungen bedeckten Papierbögen. Außerdem versammelt Trixi immer mehr Fotos und Reproduktionen um sich – eine Art Archiv oder ein bunter optischer Essay, der den Gedankengang hinter ihrem Film veranschaulicht. Gegen Mittag bekommt sie Hunger. Wie ihr Gespräch in der Bank verlaufen ist, hat sie Walter noch gar nicht erzählt. Manches kommt zwischen ihnen kaum noch zur Sprache – die Gelegenheiten bleiben aus, weil es an der Zeit dafür fehlt, oder einfach die Luft zwischen ihnen dünn geworden ist. Sie hat die Idee, Walter zum Lunch einzuladen. Zusammen eine Kleinigkeit essen und Atem holen, so stellt sie es sich vor. Sie müssen irgendetwas unternehmen. Sie sind doch ein Liebespaar. Hoffentlich sind sie ein Liebespaar.
    Sie greift zum Telefon, um ihn anzurufen. Direkt, nicht über die Büroleitung, es ist ihr verhasst, sich von der Sekretärin verbinden zu lassen. Während sie wartet, streicht ihr Blick über die Wand mit den Bildern. Ein Foto zeigt Lindner mit Ende sechzig – riesige Augen, zugleich müde und sehr wach. Nichts von der ältlichen Gesetztheit strahlt er aus, die manche Menschen in seinen Jahren entstellt. Über einem dünnen Kaschmirpullover trägt er eine offene Jeansjacke mit aufgestelltem Kragen, und was noch an Haaren aus den Seiten seines Kopfs sprießt, kringelt sich weiß um die Ohren herum. Wieso geht für sie so viel Ermutigendes von diesem Gesicht aus?
    Sie lässt das Telefon noch einige Male klingeln, und als sie schon nicht mehr damit rechnet, hört sie Walters Stimme, die matt klingt.
    Er sagt, er würde sich gerne zum Mittagessen treffen, es sei eine gute Idee, leider aber ausgeschlossen. Walter lehnt ihr überraschendes Angebot ab. Es ist ihm egal, dass sie über ihren Schatten gesprungen ist. Die Hölle sei los, zwei Kampagnen überfällig, Zabel und er uneins, welche Vorrang habe, und so weiter. Unmöglich für ihn, das Büro auch nur für eine Viertelstunde zu verlassen. Merkwürdig gedämpft hört sich seine Stimme an, fast gequält, so als stopfe irgendetwas ihm die Kehle zu. Die Worte, mit denen er sich von Trixi verabschiedet, gehen in einem gewaltigen Räuspern unter. Der Hof unter ihrem Fenster liegt jetzt ganz leer da. Mittagsruhe. Kupkas Handwerker sind unterwegs, und der Meister selbst lässt sich vermutlich gerade die doppelte Portion schmecken, die seine Frau ihm auf den Teller geschichtet hat.
    Sie bedauert längst, ihn überhaupt angerufen zu haben.

Misstrauen
    Walter wendet sich wieder seinem Computer zu. Unerklärlich, wie es dazu kommt, dass ihm seit einiger Zeit immer abstoßendere E-Mails zugeschickt werden, Reklame für Clownsbedarf – Gummiglatzen, riesige Schuhe, rote Pappnasen. Seit eh und je verabscheut er alles, was auch nur entfernt nach Rummelplatz, Zirkus oder Varieté riecht. Die Behauptung, die ganze Menschheit teile die sentimentale Vorliebe der Feld, Wald- und Wiesenseelen für die traurigen Existenzen im grünen Wagen, gehört ins Reich der Legende. Der Duft nach Sägespänen und halb verwahrlosten Tieren ist das direkteste Mittel, ihn in Melancholie zu versenken. Schon wieder klingelt das kleine Telefon, anscheinend hat unterdessen seine Privatnummer die

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