Alles Zirkus
anscheinend jemand seine Pritsche mit Getöse zusammenklatschen. Walter öffnet die Tür und sieht nach, was los ist. Vor einem Stapel auf dem Boden verteilter Akten, der offenbar aus dem Schrank hinter Sandras Schreibtisch gestürzt ist, hockt Schach. Ohne aufzublicken sagt er: »Wir fahnden nach der Akte, die der Chef braucht.«
In Sandras Züge steht eine Mischung aus Verzweiflung und Amüsement geschrieben.
»Was machen Sie denn hier? Und welcher Chef«, fragt Tomm.
»Zabel«, antwortet Schach.
»Blödsinn. Was haben Sie hier zu suchen?«
»Während Sie und Ihre Frau mir übergangsweise Obdach bieten, kann ich doch nicht die ganze Zeit auf der faulen Haut liegen, man will etwas leisten. Ich habe mit Herrn Zabel ausgemacht, dass ich einmal gründlich aufräume und ein Ordnungssystem etabliere, das Übersicht garantiert. Offenbar hat er die Nase voll davon, dass sich hier einfach wichtige Dossiers in Luft auflösen. Verständlich, finde ich.«
Tomm sieht Sandra an.
»Er hat mich angerufen, und weil wir ja tatsächlich immer wieder mal etwas vermissen, habe ich Mirko vorgeschlagen, dass wir ausprobieren, was das bringt«, erklärt sie. Osvaldo Bava kommt aus der Küche und stößt vor dem wüsten Haufen Unterlagen im Vorbeigehen einen leisen Pfiff aus, ehe er mit einem Kaffee in der Hand in seinem Büro verschwindet. Auch Walter geht wieder hinein. Er muss mit Mirko sprechen, wenn er wieder da ist, und ihm klarmachen, dass sie den Sachsen nicht mehr loswerden, wenn der hier erst einmal anfängt Wurzeln zu schlagen. Mirkos Naivität übersteigt manchmal jedes vorstellbare Maß.
Vor dem Verlassen der Agentur hat Zabel ihm einen Stapel Fotos auf den Tisch gelegt, den Walter jetzt durchsieht. Es sollen Plakatentwürfe werden, Reklame für ein neues Shampoo, das er Zéro nennen will. Eine Galerie von Bildern polierter Schädeldecken erklärt, warum. Es ist nicht zu übersehen, dass seinem Chef mit den Haaren in erschreckendem Maß die Ideen ausgegangen sind. Aber wenn er schon seine Angestellten zu kopieren versucht, warum tut er das auch noch so miserabel? Wie kann er Coras eiskalten Paradoxstil nur so verschandeln? Mirko findet, sie sollten sich um diesen läppischen Auftrag unbedingt sofort bewerben, über den deshalb schon in der Nachmittagskonferenz dringend gesprochen werden müsse. Zumal sich abzuzeichnen beginne – gibt er nun zu –, dass sie in nächster Zeit wohl kaum mit dem Auftrag jener Metallhändler rechnen können, denen er schon lange vergeblich hinterherläuft. Sein Intimus Stelter habe ihm verraten, teilt er jetzt in einem Nebensatz mit, dass im Hintergrund bereits händeringend nach einem Käufer für die Metallsparte seines Konzerns gesucht werde. Als er Mirko eben das ein paar Wochen zuvor prognostiziert hat, ist der ihm von oben herab begegnet: Strategische Überlegungen dieser Kategorie überforderten Walters Urteilsvermögen.
Er kann heute nur schlecht die Gedanken zusammenhalten. In allem sitzt der Wurm. Eigentlich müsste er die neuen Anzeigen bearbeiten, mit denen zentrale Programmpunkte der Bürgerrechtsbewegung aufgegriffen werden sollen, ohne damit Schaden anzurichten. Damit, dass sie den Auftrag erhalten haben, ist noch nicht viel erreicht. Wie eine Rakete besteht auch diese Sache aus verschiedenen Stufen. Jene, mit der sie es zunächst zu tun haben und an der sie nun arbeiten, muss dafür sorgen, dass die Schwerkraft abgeschüttelt und der Kosmos erreicht wird. Dort kann dann die eigentliche Reise stattfinden. Zabel hat sich in letzter Zeit verwaschen zur Politik der Bürgerrechtsbewegung geäußert. Ganz sicher kann Walter nicht mehr sein, dass er selber in diesem Spiel nicht für den Part des nützlichen Idioten ausersehen ist. Er denkt auch darüber nach, wieso dieses Institut für Diskrete Mathematik gestern einen Betriebsausflug gemacht hat, ausgerechnet. Just an dem Tag, als sein Entschluss gereift war, in den sauren Apfel zu beißen und diesen Neurotiker Maier aufzusuchen. Fast nicht zu glauben, dass es solche Zufälle geben soll – die unwahrscheinliche Chance dafür lautet 1 : 364 . Wie ein Hampelmann kommt man sich vor. Eine Lawine unerfreulicher Umstände rast zu Tal.
Wieso Tal? Walter hasst die Berge samt allem dazwischen. Bei Trixi ist das anders, sie kennt sich aus in den Tälern und sieht mit ihren Wunderaugen zur Zeit den Himmel nicht vor lauter eingebildeten Bergen. So ist es leider. Wenn Trixi jetzt bei ihm wäre, würde er ihr zu verstehen geben,
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