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Alles Zirkus

Alles Zirkus

Titel: Alles Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Brandt
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diesmal im Recht – als sei sie überhaupt prinzipiell begünstigt vom Naturrecht. Der Brief beweist nämlich das Gegenteil. Er bietet den festen Punkt, damit sie sich nach und nach ihr gemeinsames Leben zurückerobern, aus dem Bann subjektiver Wahrnehmungen heraustreten und über alles so wie früher miteinander reden können. Diese furchtbare Zeit der Sprachlosigkeit und der Missverständnisse zwischen ihnen wird ein Ende haben!
    Die alten Mauern der Kirche St. Cyriakus, so steht es auf dem Schild am Eingang, sind einem Märtyrer aus frühchristlicher Zeit geweiht, einem Geistlichen, der außerdem Arzt und obendrein Exorzist war. Andere Zeiten, andere Möglichkeiten, dessen Brust mochte gleich mehreren Seelen Platz geboten haben. Die Identitäten eines Erfahrungswissenschaftlers, eines Priesters und obendrein auch noch Teufelsaustreibers lassen sich kaum deckungsgleich übereinanderlegen, heutzutage hat man Mühe, eine einzelne geordnet unterzubringen. Letzten Endes erwartete allerdings auch jenen Cyriak dann, wie da zu lesen ist, sein Martyrium mit siedendem Öl und so weiter – Walter fährt sich mit dem Finger in den Kragen.
    Trixi wirft ihm vor, sie lasse sich nicht fallen, weil sie nicht sicher sein könne, von ihm aufgefangen zu werden. All sein Bemühen also – bedeutet gar nichts. 99 -prozentige Sicherheit nichts? Er muss sich jeden Tag von ihr das simple (leider nicht von ihm erfundene) Gesetz in Erinnerung rufen lassen, nach dem ein einziges schwächeres Kettenglied alle anderen, mögen sie noch so stark sein, zum Scherzartikel macht. Was aber, wenn das gar nicht stimmt? Wenn sie nicht nur im Fall dieses Briefes danebenliegt, sondern überhaupt, fundamental? Was braucht das Herz? Ist eine solche überzogene Forderung nach absoluter Sicherheit nicht eigentlich lieblos? Kommt es Trixi nicht in Wahrheit darauf an, mit dem Finger auf ihn zu zeigen? Ist das nicht der Generalschlüssel, den sie sich verschafft hat, mit dem sie jede aus gutem Grund versperrte Kammer in seiner Seele aufschließt, wie es ihr gerade passt, um alles dort zu inspizieren und zu bewerten, ganz nach Belieben und Bedürfnis? Bei anderen ist Trixi bereit, nahezu alles zu entschuldigen und jede Unzuverlässigkeit zu dulden.
    Die schweren Mauern der Kirche ruhen in sich. Noch eine Viertelstunde, und nach wie vor ahnt er nicht, womit er Maier einen Vorgeschmack auf seine angeblich bevorstehende Clownsgala geben soll. In die Stille hinein nehmen irgendwo Handwerker die Arbeit auf. Unter dem Bohrer, der sich in die dicken Steine quält, beginnt das Bauwerk zu singen, übergangslos springen die Töne. Aber was hat das mit Maiers Farbenproblem zu tun? Die hölzerne Bank, auf der Walter Platz genommen hat, ist übersät mit eingekerbten Schriftzeichen, Daten aus einem halben Jahrtausend, die ihn in ihrer Mitte aufnehmen, als sei auch er eigentlich auf den Tag seiner Geburt, den seiner Hochzeit mit Trixi und seinen ihm noch verborgenen letzten reduziert. Unerkennbar vielleicht für ihn, nicht aber für die Vorsehung, die hier zu Hause ist. Das Kirchenschiff ist von einer eigenen Wirklichkeit erfüllt, und die Frage, wie es angeht, dass dieser fanatische Mathematiker einfach über Walters reale Person hinweggehen kann, um sich direkt an den ekelhaften Clown zu wenden, der doch lediglich durch seine Albträume spukt, stellt sich hier drinnen nicht mit derselben Schärfe wie draußen.
    Sein Mantel liegt auf der Autorückbank, zwischen der und der Kirche regnet es in Strömen. Er wartet im Eingang, vielleicht schwächt sich der Wassersturz ja ab. Mit Bestimmtheit nähert sich dem Portal eine Nonne unter ihrem schwarzen Schirm und schüttelt ihn, bevor sie im Kircheninnern verschwindet, durch heftiges Öffnen und Schließen so aus, dass die Tropfen nun von der Seite her auf Walter zuschießen. Er denkt ans Büro, an neue Fernsehspots für eine Bank, die kürzlich nur durch staatliche Milliarden davor behütet wurde zu kollabieren. Acht kurze Filme – für jedes Geschäftsfeld einen – hat Cora skizziert. Erst kommt ein Banker im Maßanzug ins Bild, dann wird im digitalen Trick die Windmaschine angestellt, und all seine Attribute gehobener Selbstdarstellung lösen sich nach und nach von ihm ab, bis am Ende ein gerupfter Vogel übrigbleibt, der die Hand wie ein Bettler ausstreckt: Bittebittebitte! Genial, was das Mädchen zu bieten hat. Wieviel Zabel davon übriglassen wird, daran darf er nicht denken.
    Der Regen will nicht nachlassen. Walter

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