Alles Zirkus
fühlt auf einmal das ganze Gewicht, das auf ihm lastet. Aber jetzt muss er los. Die Hände als Dach über dem Kopf, läuft er zum Auto und fällt durchnässt hinter das Steuer. Die befleckte Picasso-Hose, die Wildlederschuhe, aus allem sickert Wasser. Vom Armaturenbrett bedeuten ihm leuchtende Ziffern, dass er die Fahrt zu lange unterbrochen hat. Er muss den Professor ein wenig warten lassen. Jetzt schleicht vor ihm auch noch ein Lastwagen durch die Straße, die zu unübersichtlich und eng ist, um zu überholen. Im Rückspiegel begegnet ihm sein eigenes Gesicht. Er nimmt sich morgens Zeit für die Messerrasur und gibt den Haaren auf seinem Kopf Nahrung in Form einer kostspieligen Tinktur, mit der er sie in Form bringt. Und dann rinnt ihm der Regen aus dem Schopf, und er muss sich in einem Zustand, der ihn unterminiert, bei Maier im Institut blicken lassen. Walter hupt einige Male, weil der Laster immer noch keine Anstalten macht, ihn vorbeizulassen.
In dem Unwetter fällt kaum auf, dass die Dämmerung einsetzt. Als er schließlich eintrifft, hat es sich so verdunkelt, dass im Institut die Lampen eingeschaltet sind – trübselige Kolben, deren graues Licht die Stimmung zu Boden drückt. Er wird nicht die Begegnung mit Maier abwarten, sondern sich als erstes den Brief sichern. Unterschreiben kann der Professor das Duplikat, wenn er in Laune ist, nachdem sie seinen bevorstehenden Auftritt als Mathematik-Clown besprochen haben. Vergisst er es, kann Walter das notfalls auch selber erledigen.
»Hier kommt nichts weg«, antwortet die barsche Sekretärin, als er sie um den Brief bittet, zuerst müsse sie allerdings noch erledigen, woran sie gerade arbeite, dann könne sie suchen. Aber der Professor erwarte ihn schon, er solle jetzt hineingehen.
Er wird ihn bekommen, das ist die Hauptsache! Eine geradezu unwirkliche Erleichterung durchströmt Walter, er vermag sein Glück gar nicht zu fassen. Seit wie langer Zeit eigentlich darf er erstmals wieder erleben, dass nicht automatisch alles konsequent in die falsche Richtung läuft?
Sein vom Regen schweres Jackett ist luftundurchlässig geworden. Walter klopft, drückt schwitzend die Klinke und betritt das Chefzimmer. Der Professor sieht ihn an wie einen Vertrauten. In einem eleganten dünnen Kamelhaarpullover steht er vor dem Zeichenbord, auf das nur ein Wort in sehr großen Buchstaben geschrieben ist: Profi.
»Das ist die schöne Seite meines Berufs«, begrüßt Maier ihn. »Ich habe es nur mit Spezialisten zu tun, die das, was sie vorhaben, auch können. Jetzt bin ich gespannt, was Sie mitbringen.«
Sie setzen sich an den Tisch, auf dem eine Mappe liegt, die Vom Vierfarbensatz – Beweisführung nach Namura und Haraldsen überschrieben ist. Zu dieser besonderen Gelegenheit hat der Professor frischen Kaffee in der Plastikkanne. Da Walter immer noch schweigt, fragt Maier ihn direkt: »Was haben Sie sich überlegt? Wie sehen Ihre Vorschläge für unseren Vierfarbensatz-Event aus, Herr Tomm?«
»Falsch«, sagt Walter nach kurzem Zögern erst einmal, um Zeit zu gewinnen. Er sieht, dass er verloren hat, wenn nicht irgendetwas von außen eingreift. Wie will er den Erwartungen des Mannes hier entsprechen? Der trügerische Vorhang hat sich gehoben und die Tatsache offengelegt, dass er in keiner Weise auf die Situation vorbereitet ist. Er sitzt in der Falle – der Falle, die er sich selbst gestellt hat. Wenn sich nicht irgendetwas ergibt … Was denn? Er fühlt sich, als sei er eines von Trixis Filmbildern, auf denen, wie sie nicht müde wird zu betonen, nichts ist, was sie nicht selbst dorthin gegeben hat. Rein gar nichts stellt sich von alleine ein. Ein Film? Lachhaft, hier im Leben umweht ihn schonungslos das Nichts. Walter sitzt eingesunken schwitzend in seinem wegen verbliebener Spuren des herausgetrennten Etiketts immer noch in den Nacken schneidenden T-Shirt, er sieht zu seiner befleckten, wassertriefenden Hose mit den großen Karos hinab und sagt leise: »Irrtum, Herr Maier. Nicht Tomm. Wer ist Tomm? Il Giocondo, der große Giocondo«, improvisiert er mit gerolltem R, so wie er es von den traurigen Auftritten der Zirkusclowns früher in Erinnerung hat. »Vergleichen Sie mich bitte nie mehr mit einem Dilettanten wie Rivel! Der Mann hatte nicht mehr Humor als ein Elch.«
Maiers Augen versprühen kleine Sterne der Freude. Seine Brauen runzeln sich, als wolle er gleich laut herauslachen. Oder was bringen sie zum Ausdruck? Zweifel? Befremden? Walter erhebt sich aus dem
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