Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
wollte sonst niemand sehen. Andropow war bereits dagewesen und hatte mit den Ärzten und den Leibwächtern gesprochen. Der Tod war am frühen Morgen eingetreten.
Wir schwiegen einen Augenblick. Dann sagte ich: »Das ist ein verantwortungsvoller Augenblick. Es muss eine Entscheidung gefällt werden, die Sie persönlich wohl zuallererst betrifft.«
Andropow antwortete nicht. Unser Verhältnis erlaubte mir nicht, um den heißen Brei herumzureden, und ich fragte daher offen: »Haben Sie sich schon im engsten Kreis getroffen?«
Er nickte. Ja, sie hatten sich getroffen und auf Andropows Kandidatur geeinigt. Er nannte Ustinow, Gromyko und Tichonow. Tschernenko erwähnte er nicht, sodass ich nicht sagen kann, ob er bei diesem Gespräch dabei war.
»Egal, was passiert«, sagte ich, »Sie können nicht ablehnen.«
Am selben Tag noch fand eine Politbürositzung statt. Eine Beerdigungskommission unter Andropows Führung wurde eingerichtet und ein entsprechender Erlass verabschiedet. Umgehend sollte eine außerordentliche Plenartagung des ZK einberufen werden, und auf Tichonows Vorschlag wurde einstimmig Andropows Kandidatur für den Posten des Generalsekretärs gebilligt. Auf der Plenartagung sollte Tschernenko diesen Vorschlag im Namen des Politbüros unterbreiten.
Obwohl Breschnews Tod plötzlich eingetreten war, erschütterte er niemand von uns und brachte niemand aus dem Gleichgewicht. Natürlich dachten wir in jenen Tagen alle über die Zukunft nach, darüber, in welchem Zustand das Land war und was uns erwartete. Ich kann mit Bestimmtheit sagen: Schon damals überwog die Erwartung großer Veränderungen.
Über Breschnews achtzehnjährige Regierungszeit als Stagnationsperiode ist nicht wenig gesagt und geschrieben worden. Man sollte diese Einschätzung wohl konkretisieren und vertiefen. Umso mehr als in der letzten Zeit vonseiten konservativ-fundamentalistischer Kräfte Versuche unternommen werden, die Breschnew-Ära zu rehabilitieren.
In politischer Hinsicht ist die Breschnew-Ära nichts anderes als eine konservative Reaktion auf Chruschtschows Versuch, das autoritäre Modell des Landes zu reformieren. Streng genommen, begann diese Reaktion bereits unter Chruschtschow, was zur Widersprüchlichkeit seiner Handlungen innerhalb des Landes und auf der internationalen Ebene führte. Obwohl er dem Druck des Partei- und Staatsapparates nachgab, wollte Chruschtschow seine Reformbestrebungen nicht ganz fallenlassen. Wie ich schon erwähnt habe, war selbst in den chaotischen Veränderungen der Partei- und Wirtschaftslenkung die Tendenz erkennbar, die Allmacht der Partei- und Staatsbürokratie zu schwächen. Eine solche Führungspersönlichkeit passte ihr nicht, und so wurde er gestürzt.
Breschnew kannte die Neigungen der Partei- und Staatselite und des militärindustriellen Komplexes gut, stützte sich auf sie und nutzte ihre unbegrenzte Loyalität, um im Grunde eine harte neostalinistische Linie zu verfolgen. Unter Breschnew wurde viel von Demokratie gesprochen, die Annahme der neuen Verfassung war ein Riesenspektakel. Und gleichzeitig wurde ein beispielloser Kampf gegen Andersdenkende geführt: Die einen kamen ins Gefängnis, die anderen wurden in Irrenanstalten gesperrt, die Dritten aus dem Land geworfen. Das hatte eine erprobte Methode: Angst.
Beschworen wurde: eine »sparsame Ökonomie«, Intensivierung der Produktion, Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, Erweiterung der Selbständigkeit der Betriebe. Aber selbst die bescheidene und ängstliche »Kosygin-Reform« von 1965 stieß auf erbitterten Widerstand und wurde abgewürgt. Die Plenartagung zum wissenschaftlich-technischen Fortschritt fand nicht statt, sondern wurde Jahr für Jahr verschoben. Die Wirtschaft ging immer weiter ihren extensiven, unrentablen Weg, der zum Bankrott führte.
Unter dem Deckmantel einer gewaltigen Propagandakampagne für die internationale Entspannung wurde, selbst nachdem wir um den Preis horrender Ausgaben mit den USA militärisch gleichgezogen hatten, weiter aufgerüstet. Der »Prager Frühling« wurde niedergewalzt. Zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die Streitkräfte unseres Landes in Afghanistan in ein aussichtloses Abenteuer hineinziehen lassen.
Aber das Wichtigste an der Breschnew-Ära für die Geschichte unseres Landes ist die Tatsache, dass die Führung die Herausforderungen ihrer Zeit ignorierte. Während sie an alten Dogmen und Vorstellungen festhielt, übersah sie den Eintritt
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