Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
tiefgreifender Wandlungen in Wissenschaft und Technik, in den Lebensbedingungen und der Tätigkeit der Menschen, Länder und Regionen, ja der ganzen Weltgemeinschaft, Wandlungen, die den Anbruch einer neuen Zivilisation bedeuteten. Dadurch dass jegliche Änderungen bei uns blockiert waren, landete unser Land in einer Sackgasse und war zu langer Rückständigkeit und einer tiefen gesellschaftlichen Krise verurteilt.
Mit Breschnews Tod stellte sich die Frage: Wird alles bleiben, wie es ist, wird unsere Gesellschaft weiter bergab gehen, oder wird es einschneidende Wandlungen geben, vor allem eine Erneuerung der politischen Führung? Da unser Land einer der Eckpfeiler der ganzen Welt war, beschäftigte diese Frage nicht nur unsere Bürger, sondern auch die Weltgemeinschaft.
Wenn ich an die Eindrücke jener Tage denke, so zeichneten sich bei den Hauptakteuren zwei Tendenzen ab. Die eine war: Breschnew zum »Klassiker« auszurufen, zu einer großen »Autorität«, mit deren Hilfe man die frühere Truppe beibehalten und die neue Führung sofort in die Schranken weisen konnte. Die andere: sich in der Einschätzung der Breschnew-Ära zurückzuhalten und eine Möglichkeit für Veränderungen zu schaffen.
Wie zuvor traten diese Tendenzen nicht bei öffentlichen Diskussionen und in offenen Auseinandersetzungen zutage, sondern äußerten sich in feinsten Nuancen, die nur für ein erfahrenes Ohr und Auge wahrzunehmen waren.
Die von Tschernenkos Diensten ausgerichtete Beerdigung war in ihrer pompösen und grandiosen Gestaltung nicht zu überbieten. Auch Tschernenkos Rede auf der Plenartagung vom 12 . November war vom selben Kaliber. Sichtbar bemüht las er die von seinen Helfern notierten pathetischen Worte vom »konsequentesten Fortsetzer der Sache Lenins« und begnadeten, mit allen erdenklichen Begabungen und Tugenden ausgestatteten Theoretiker vom Blatt.
Die Stagnation in der Personalpolitik, die sprichwörtlich gewordene Überalterung der Führung, wurde gepriesen als höchste Errungenschaft Breschnews, der ein so weises, außerordentlich kompetentes und geschlossenes Kollektiv von politischen Führern geschaffen habe. Was die Erklärung betraf, besser als alle anderen habe sich Andropow den Führungsstil Breschnews und dessen sorgsamen Umgang mit den Kadern angeeignet, so war dieses Kompliment für den Angesprochenen von überaus zweifelhaftem Wert. Und die von Tschernenko geäußerte Versicherung, Andropow werde die Breschnew’sche Kollegialität bestimmt nur festigen, hatte den klaren Unterton: Das Kommando wird von uns zusammen übernommen.
Die Gesellschaft spürte, dass das Land nicht nur Änderungen brauchte, sondern dass sie unmittelbar bevorstanden. Vor diesem Hintergrund war die Lobhudelei eindeutig überzogen. Ich war in jenen Tagen an Andropows Seite und sah, dass er sich darüber im Klaren war, dass er sich von vielem in der »Breschnew-Ära« würde absetzen müssen. Er war deutlich in Sorge, wie man seine ersten Schritte aufnehmen würde.
Andropows Rede auf der Plenartagung, auf der er zum Generalsekretär gewählt wurde, war recht reserviert. Sie enthielt keine offene Provokation, es fielen alle sich aus Anlass von Breschnews Tod geziemenden Worte, aber auch nichts darüber hinaus. Tschernenko war nach dieser Rede ganz niedergeschlagen, obwohl Andropow mit ihm durchaus schonend umging.
Nach einem Beschluss, der lange vor diesen Tagen feststand, sollte am 15 . November eine ordentliche Plenartagung des ZK stattfinden, auf der die Entwürfe für den Wirtschaftsplan und den Haushalt des folgenden Jahres auf der Tagesordnung standen. Andropow wusste, dass er schon bei diesem Anlass seinen künftigen Kurs zumindest in Ansätzen skizzieren musste. Die Plenartagung wurde um eine Woche verschoben.
10 . Kapitel
450 Tage: Andropow als Generalsekretär
Andropow und Tschernenko amtierten zusammengerechnet 850 Tage lang als Generalsekretäre. Das war eine schmerzliche Zeit für das Land. In diesen zwei Jahren und vier Monaten vollzog sich das, was zu einem Generationswechsel an der Spitze der Macht führen sollte.
Ohne eine eingehende Darstellung des Intrigenspiels jener Zeit lässt sich auch mein Machtantritt nicht verstehen. Ich versuche wiederzugeben, wie was in jener Zeit geschah, was für eine Bedeutung es hatte und was nach dem Tod Andropows und später Tschernenkos hätte eintreten können. Schließlich war ich ja in all diese Dinge zutiefst involviert.
Die ersten Tage von Andropows Machtantritt als
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