Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Generalsekretär waren sehr angespannt. Man musste schnell entscheiden, wie man es mit Breschnews Referat halten sollte. Natürlich konnte man es allenfalls als Grundlage für die Ideen und Absichten des neuen Generalsekretärs benutzen. Aber Andropow fürchtete, es würde zu prätentiös wirken, wenn er so aufträte, als wäre ihm nach einer knappen Woche schon alles klar.
Meine Meinung dazu war: »Natürlich können Sie in einer Woche kein Gesamtprogramm ausarbeiten. Aber ein paar Akzente setzen, die Hauptfragen andeuten und sich so äußern, dass allen Leuten klar wird, welche Lösungen Ihren Vorstellungen entsprechen und eine Perspektive haben, muss doch machbar sein.« Ich weiß, dass sich Andropow auch mit anderen beriet.
Die Plenartagung, die aufgrund Breschnews Tod um eine Woche nach hinten verschoben wurde, fand am 22 . November statt. Andropows Rede als Generalsekretär machte einen guten Eindruck. Trotz aller für diese Zeit typischen Klischees und Stereotypen enthielt sie neue Ansätze. Er sprach die ernsten Versäumnisse in der Wirtschaft an, die Nichterfüllung der letzten Fünfjahrespläne und die daraus folgende Notwendigkeit, Wirtschaft, Verwaltung und Planung zu verbessern, die Selbständigkeit der Betriebe auszuweiten und Anreize für produktive Arbeit, Initiative und Unternehmungsgeist zu schaffen. Diese Einschätzungen des Generalsekretärs fanden Zustimmung. Besonders begeistert wurden seine Worte aufgenommen, die Ansprüche müssten erhöht, die Disziplin gestärkt und die Umsetzung der Beschlüsse müsse kontrolliert werden. Offenbar hatten alle die allgemeine Schlamperei ordentlich satt.
Natürlich waren einige ausschlaggebende Themen in der Rede nur angerissen, aber selbst das war in diesem Moment wichtig. Bei der Ausarbeitung der Rede waren sich alle darüber einig, eine prinzipiell andere Methode der Wirtschaftsführung müsse angestrebt werden. Was für eine, darauf hatten wir noch keine Antwort. Eigenhändig fügte Andropow an dieser Stelle den Satz ein, er habe keine fertigen Rezepte für alle Vorkommnisse des Lebens. Das lud Partei und Gesellschaft gleichsam dazu ein, die Lösung mit zu suchen.
Andropow hatte gesprächsweise mehrfach betont, er betrete nicht die Bühne, wenn in seiner Rede nicht die Verantwortung konkreter Leiter der Ministerien angesprochen werde, in denen die Angelegenheiten besonders schlecht standen. Deshalb waren scharfe kritische Passagen in den Text eingefügt worden über das Verkehrswesen, den Zustand der Metallurgie und das Bauwesen, die jahraus, jahrein die Bedürfnisse der Volkswirtschaft nicht zufriedenstellten. Bald darauf wurden denn auch die Leiter dieser Ministerien Pawlowskij, Kasanez und Nowikow ihrer Ämter enthoben.
Am außenpolitischen Teil seiner Rede hatte Andropow zusammen mit Arbatow, Bowin und Alexandrow gründlich gearbeitet. Zu den im Westen laut gewordenen Befürchtungen, mit dem Tod Breschnews werde sich unsere Außenpolitik zum Schlechteren wenden, merkte Andropow sarkastisch an, noch vor kurzem hätten sie genau diese Politik gnadenlos kritisiert. Andropow hatte in all den Jahren zuvor selbst an der Ausarbeitung des außenpolitischen Kurses mitgewirkt, war ein Anhänger der Entspannung und erklärte nun, dies sei keine zufällige Episode in der Geschichte der Menschheit, sondern ein Weg, der noch ganz am Anfang stünde.
Zur Position der UDSSR bei den Abrüstungsgesprächen sagte Andropow, er sehe die Aufgabe nicht darin, die Differenzen festzuhalten, wie unsere Verhandlungspartner dies häufig täten; sondern Verhandlungen seien ein Weg, die Bemühungen verschiedener Staaten zu bündeln, um zu Ergebnissen zu kommen, die für alle Seiten von Nutzen sind. Das Wettrüsten zu zügeln und die Waffenarsenale einzufrieren, dürfte allerdings nicht einseitig verlangt werden. Auch für eine Veränderung der Beziehungen zu China sprach sich Andropow aus. Dies erfordere eine Überwindung der alten Vorurteile. Bei diesen Worten wurde geklatscht.
In den ersten Tagen und Wochen achteten alle darauf, welche praktischen Schritte der Generalsekretär unternehmen werde. Andropow hatte beschlossen, schon seine erste Plenartagung für einen Wechsel der Kader zu benutzen.
Schon im Sommer, als Breschnew im Urlaub war, hatte ich ein Schreiben zu den Fragen der Wirtschaftspolitik vorbereitet. Ich schlug vor, eine Politbüro-Kommission zu Fragen der Wirtschaftspolitik einzurichten. Bevor ich es an Breschnew abgeschickt hatte, gab ich es Andropow zu
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